Was uns Menschen aus 70 Ländern über die Liebe lehren
Ich lese gerade das im Jahr 2021 erschienene “International Handbook of Love“, welches in 60 Beiträgen verschiedener Autor:innen einen interdisziplinären Blick auf die Liebe wirft.
Ein Artikel hat es mir besonders angetan, dessen Erkenntnisse ich gerne mit den Leser:innen dieses Blogs teilen möchte:
- Correlates of Love Across Relationship Types and Cultural Regions, verfasst von Charles T. Hill und einer riesigen Anzahl an Kooperations-Partner:innen.
Die große Anzahl an Kooperations-Partner:innen wird in Anbetracht des Umfangs des Projektes sogleich verständlich werden:
- An der Untersuchung über das, was wir als Liebe erleben, beteiligten sich Menschen aus mehr als 70 Ländern aus neun Kultur-Regionen: Nordamerika, Lateinamerika, Westeuropa, Osteuropa, Zentral-, West- und Südasien, Südostasien, Afrika und der Pazifik-Region.
In allen diesen Ländern und Regionen wurde zudem unterschieden zwischen Angaben von
- Singles und Verpartnerten
- Männern und Frauen
- Personen in gleichgeschlechtlichen oder heterosexuellen Beziehungen
- Verheirateten oder Nicht-Verheirateten
Nicht binäre Personen und polyamore Beziehungs-Typen wurden in diese Auswertung leider nicht einbezogen. Dennoch erreicht das Projekt einen Generalisierungs-Grad über unsere Konzepte von Liebe im kulturellen Kontext, wie sie nur ganz wenige Projekte bisher zu erreichen vermochten.
Das entscheidende Resultat
Wir haben hier also die Ansichten, Überzeugungen und Erlebensweisen von Frauen und Männern aus mehr als 70 Ländern in verschiedenen Beziehungsformen oder als Singles vorliegen.
Ich will nicht lange warten mit dem eigentlichen Hauptergebnis dieser monumentalen Untersuchung:
- Über die neun Kulturregionen, die beiden untersuchten Geschlechter, Single-Status und Beziehungsform hinweg zeigten sich nahezu identische Konzepte und Vorstellungen von dem, was wir als Liebe erleben!
Erneut bestätigt diese Studie – dieses Mal für die Liebe – was tatsächlich die Essenz kulturvergleichender Forschung, aber auch der Forschung zu Geschlechterunterschieden ist:
- Zwischen den Kulturen und Geschlechtern überwiegen die Gemeinsamkeiten, insbesondere dann, wenn wir uns nicht eher oberflächliche oder äußere, sondern fundamentale Erlebensformen anschauen.
6 Faktoren der Liebe
In allen Kulturen zeigten sich (statistisch) sechs Grundfaktoren, die das romantische Verständnis und Erleben der Beteiligten grundlegend prägten oder strukturierten.
Als Fragen, die wir an uns selbst stellen können, wurden diese im Beitrag folgendermaßen formuliert:
- Beziehungs-Motivation: Was sind meine Gründe für den Wunsch nach einer romantischen Beziehung vor dem Hintergrund meiner Lebensziele, Werte und meiner Persönlichkeits-Merkmale?
- Partner-Kompatibilität: Wir vereinbar sind Person, Intelligenz, Anziehung und unsere sozialen Bezugsfelder für eine stabile romantische Beziehung miteinander?
- Vertrautheit und Intimität: Lieben wir uns beide, kennen wir uns wirklich, kommunizieren wir vielfältig und wie befriedigend ist unsere gemeinsame Sexualität?
- Beziehung als Austausch: Bringt mich die Beziehung voran und sind wir beide gleichstark in der Beziehung involviert?
- Konflikt-Klärung: Wie reagieren wir auf Konflikte, diskutieren wir relevante Themen und finden so zu einer gemeinsamen Basis, verstehen wir, was unser Partner:innen belastet?
- Beziehungszufriedenheit: Machen unsere Partner:innen uns glücklich? Trägt die Beziehung dazu bei, dass unser Leben erfüllend und bedeutungshaltig wird?
Egal, in welcher Gesellschaft, in welchem politischen System, mit welchen religiösen Überzeugungen die Befragten lebten – egal, ob sie Männer oder Frauen, Singles oder Verpartnerte waren, ob sie in gleichgeschlechtlichen oder heterosexuellen Beziehungen lebten:
- Das Denken und Erleben der Befragten über die Liebe kristallisierte sich anhand ihrer Auseinandersetzung mit diesen Kernfragen.
Ähnliche Antworten
Aber nicht nur die Fragen waren gleich, sondern auch die Antworten waren weitgehend zwischen den Kulturen, Geschlechtern und Beziehungsformen ähnlich. Dort, wo die meisten in der einen Kultur besonders stark miteinander übereinstimmten, taten dies auch die meisten in der anderen Kultur.
Es ergibt wenig Sinn, einfach alle Befunde des Artikels hier zu rekapitulieren, aber ich greife einige relevante Zusammenhänge heraus:
- Eros – der romantische Liebesstil nach Lee (siehe mein Video zu den sechs Liebesstilen) – führte mit weitem Abstand das an, was unserem Verständnis von partnerschaftlicher Liebe entspricht, gefolgt von Agape, der Aufopferung, Storge, der Freundschaft, aber auch von Mania, der Eifersucht. Demgegenüber waren Pragma, die pragmatische Liebe, und Ludus, die spielerische Liebe, nur trivial mit dem verbunden, was als Kern der Liebe von den Befragten erlebt wurde.
- Das wechselseitige Gefühl der Liebe, die emotionale Nähe, der wechselseitige Ausdruck von Zärtlichkeit markierten übergreifend über Kultur, Geschlecht, Beziehungsstatus und Beziehungstyp die Liebe in ihrem Kern.
- Nähe als Zentralaspekt romantischer Liebe kennzeichnete sich vorwiegend durch Selbstoffenbarung der eigenen Person und der Partner:innen, wechselseitige Kenntnis und Verstehen, Vertrauen und Ehrlichkeit. Die Häufigkeit, mit der sich Partner:innen sehen, übte ebenfalls einen gewissen, aber bei Weitem geringeren Einfluss auf die Liebe in der Sichtweise der Befragten aus.
- Sexuelle Zufriedenheit und eine als ideal wahrgenommene Häufigkeit sexueller Aktivitäten förderte die Liebe, wobei der Sexualität eine wichtige, aber doch nur moderate Rolle im Gesamtbild der Liebe der Befragten zukam.
- Hilfreich für die Liebe waren aus Sichtweise der Befragten positive Reaktionen auf Konflikte und das Ansprechen von Konflikten, während Rückzug aus der Beziehung als negativ bewertet wurde.
- Für die Liebe förderlich war es gemäß der Befragten, wenn wir durch die Liebe innerpsychisch profitierten, die Beteiligten gleich involviert waren, wenn wir in eine Beziehung investierten und eine ausgeglichene Macht-Balance bestand.
- Die erlebte Anziehung durch Partner:innen, ihre Intelligenz und Attraktivität wurde als wesentlich erlebt, wobei die erlebte Anziehung durch Partner:innen an allererster Stelle stand. Aber auch das Ausmaß, in dem Partner:innen durch die eigene Person angezogen wurden, spielte eine Rolle.
- Liebe war für die Befragten eingebunden in eine Ähnlichkeit der Personen, der Kinderwünsche, der Intelligenz und des sozialen Status, wobei die Ähnlichkeit der Personen bei Weitem wichtiger war als die Ähnlichkeit des sozialen Status. Für die letztliche Auswahl von Partner:innen für eine echte Liebe wurde sogar allein der Person ein positiver signifikanter Einfluss zugeschrieben, nicht aber sozialem Status, Attraktivität und Ethnizität. Wählen wir also jemanden, weil er attraktiv ist, wird diese Wahl kulturübergreifend eher weniger als Ausdruck von Liebe bewertet.
- Liebe strebte nach den Angaben der Befragten danach, das soziales Umfeld (Eltern, Freund:innen, Arbeitskolleg:innen) mit ihr vertraut zu machen.
- Liebe soll nach den Angaben der Befragten Glückserleben, Lebenssinn (siehe auch mein Video Glück und Lebenssinn) und Lebenszufriedenheit ermöglichen.
Resümee
Wir können den Schwerpunkt darauf legen, Mittelwertunterschiede zwischen Kulturen, Beziehungsformen und Geschlechtern zu ermitteln. Das kann sehr interessant sein. Es kann auch gefährlich sein, indem wir die (oftmals geringen) Mittelwertunterschiede zu sich entgegengesetzten Kategorien verdichten und so moderate Unterschiede plötzlich zu scheinbaren Unvereinbarkeiten werden.
Charles T. Hill und Kolleg:innen interessierten sich für das, was Menschen in verschiedenen Kulturen als strukturelle Essenz der Liebe erleben. Ihre Ergebnisse zeigen, dass diese strukturelle Essenz zwischen den verschiedensten Kulturen, Geschlechtern und untersuchten Beziehungs-Typen nahezu identisch ist.
Diversität ergibt sich tatsächlich nicht vorwiegend aus kulturellen Unterschieden, Geschlechtsunterschieden oder Unterschieden im Beziehungstypus, sondern aus individuellen Unterschieden, die wir innerhalb aller Kulturen und Geschlechtern/Gendern sowie Beziehungs-Typen zwischen den einzelnen beteiligten Menschen finden.
Die kulturübergreifende Sichtweise dessen, was die Essenz der Liebe ist, macht deutlich, warum Menschen aller Kulturen und Religionen miteinander Liebesbeziehungen führen können. Genauso macht es die geschlechterübergreifende Essenz verständlich, warum – bei allen Mittelwertunterschieden – natürlich auch beispielsweise Mann und Frau dazu imstande sind, eine erfüllende Liebesbeziehung miteinander zu führen. Die weit verbreitete Übertreibung von Mittelwertunterschieden lässt diese (optimistische und realitätsgerechte) Perspektive oftmals verloren gehen.
Erkennbar wird aus den Befunden auch eine wohl typische individuelle Egozentrik von uns allen:
- Angezogen werden durch Partner:innen“ ist uns beispielsweise wichtiger für unsere Liebe, als selbst anziehend zu sein. Dies liegt daran, dass wir letztlich von unserem eigenen Erleben ausgehen, auf welches allein wir direkten Zugriff haben. Solange wir dennoch durch Empathie und Perspektivenübernahme auch auf unsere Partner:innen achten, braucht diese egozentrische Verfärbung unsere Liebe nicht zu beeinträchtigen, sie gehört vielmehr dazu.
Wenn ich die Befunde von Hill und Kolleg:innen lese, wird mir übrigens gleichzeitig noch einmal deutlich, wie uninformiert und fehlgeleitet diejenigen sind, die uns jetzt wieder verstärkt das Märchen unüberwindbarer kultureller Differenzen erzählen – und damit genau keinen Beitrag dafür leisten, dass die Liebe in unserer Welt gedeihen kann.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal alle Gleichklang-Mitglieder herzlich bitten, an unserer aktuellen großen ▶ Umfrage zum Liebes- und Datingerleben von Gleichklang-Mitgliedern teilzunehmen. Gerne möchte ich an dieser Stelle demnächst über die Ergebnisse berichten.
Wenn Sie noch kein Gleichklang-Mitglied sind, lade ich Sie herzlich ein, Ihren Weg zur Liebe mit uns zu gehen:
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