Studie zu sexuellem Begehren und Liebe
Christine E. Leistner, Katherine R. Haus, Dani E. Rosenkrantz und Kristen P. Mark haben kürzlich in einer Studie heterosexuelle, bisexuelle und lesbische Frauen zu ihren Ansichten interviewt, wie sexuelles Begehren und Liebe miteinander zusammenhängen.
Der Titel der Arbeit, die im Fachjournal Sexuality & Culture veröffentlicht wurde, lautet (übersetzt) :
- Die Koexistenz von Liebe und Begehren: Erfahrungen von bisexuellen, lesbischen und heterosexuellen Frauen.
Ich finde die Befunde hochinteressant und habe keinen Zweifel, dass sie sich ebenso auf Männer und nicht-binäre Personen übertragen lassen. Es mag gewisse Häufigkeitsunterschiede geben, aber letztlich lassen sich bei allen Geschlechtern vergleichbare Grundmodelle von Sexualität und Liebe identifizieren – sonst wären gemeinsame Beziehungen kaum möglich.
Allgemein gilt übrigens, dass Geschlechter-Unterschiede in der Psychologie gering sind und sich zudem in den letzten Jahrzehnten immer mehr reduzierten. So gelangten beispielsweise Jennifer Petersen und Janet Shibley Hyde (2014) in einem Überblicksartikel vor Kurzem zu dem Ergebnis, dass es kaum noch geschlechtsspezifische Unterschiede in akademischen Fähigkeiten gebe und sich bestehende Unterschiede bei beruflichen Zielen und Interessen auf elterliche oder kulturelle Erwartungen zurückführen ließen.
Dieser Befund ist deshalb so bedeutsam, als dass einige Jahrzehnte zurückgehend noch erhebliche Unterschiede in akademischen Fähigkeiten existierten. Diese und viele vergleichbare Befunde belegen, wie stark Geschlechter-Unterschiede in Wirklichkeit nicht biologisch, sondern kulturell geprägt sind.
Dies aber nur nebenbei – zurück zur Arbeit von Leister et. al., die zudem deutlich macht, dass Grundmodelle von Sexualität und Liebe sich über die verschiedenen sexuellen Orientierungen gut generalisieren lassen.
Auch hier mag es wiederum Häufigkeitsunterschiede geben. Alle Grundausrichtungen lassen sich aber bei Personen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen finden.
Ergebnisse
Vier Grundmodelle zu sexuellem Begehren und Liebe
In ihrer qualitativen Analyse der Angaben ihrer Interviewpartner:innen konnten die Autor:innen vier zentrale Themen herausarbeiten, die verschiedenen Sichtweisen zu den Zusammenhängen zwischen sexuellem Begehren und Liebe entsprechen.
(1) Liebe und Begehren sind voneinander getrennt
Die Betreffenden schilderten eine Trennung zwischen Liebe und Verlangen, die sich nicht notwendigerweise überschneiden bräuchten.
Liebe und Begehren können demnach unabhängig voneinander und insofern auch gegenüber verschiedenen Personen auftreten – manche Personen mögen geliebt, andere begehrt werden:
- Ich glaube, ich habe viele Leute begehrt und nicht geliebt, aber ich kann auch viele Leute lieben, aber sie nicht begehren.
- Bei meiner Ex-Freundin habe ich sie wirklich geliebt und ich war in sie verliebt, aber ich habe nicht so viel Verlangen nach ihr verspürt.
Liebe wird dabei als stabiler aufgefasst, während Begehren eher als fluktuierender, kurzfristiger oder fragiler Prozess beschrieben wird:
- Ich glaube, ich habe viele Leute begehrt und nicht geliebt, aber ich kann auch viele Leute lieben, aber sie nicht begehren.
- Bei meiner Ex-Freundin habe ich sie wirklich geliebt und ich war in sie verliebt, aber ich habe nicht so viel Verlangen nach ihr verspürt.
Liebe wird zudem stärker als Begehren mit komplexem emotionalen und handlungsbezogenen Prozessen, Engagement oder auch Spiritualität assoziiert:
- Wenn ich an Liebe denke, fallen mir viele Worte ein, die nicht mit Verlangen zu tun haben … Wertschätzung, Mitgefühl, Arbeit.
- Ich glaube, für mich ist Liebe viel mehr ein emotionaler, mentaler oder spiritueller Zustand
- Man muss so engagiert sein, um jemanden jemanden wirklich zu lieben.
Begehren wird demgegenüber eher als ein vorwiegend physiologisch-triebhafter Prozess angesehen:
- Ich betrachte das Verlangen eher als etwas Körperliches. Sexuelles Verlangen eher ein natürlicher, innerer, tierischer Trieb.
(2) Liebe und Begehren gehören zusammen
Dies ist das Gegenmodell zur Trennung von Liebe und Begehren. Die Betreffenden schilderten einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen Liebe und Begehren. Beschrieben wurde geradezu eine Unmöglichkeit, jemanden nicht zu begehren, der romantisch geliebt werde:
- Wenn es um Romantik geht, glaube ich nicht, dass ich jemanden romantisch lieben könnte, ohne ihn zu begehren.
Der Zusammenhang zwischen Liebe und Begehren ist demnach so eng, dass die Betreffenden Schwierigkeiten haben, zwischen ihnen zu unterscheiden:
- Liebe und Begehren. Hm, das ist schwierig für mich, weil beides irgendwie irgendwie Hand in Hand gehen. Ich schätze, wenn ich in jemanden verliebt bin, dann bin ich sozusagen ein All-In-Typ. Wenn ich mich in einen Menschen verliebe … dann ist da einfach diese Sehnsucht, mit dieser Person zusammen zu sein. … Je mehr man mit dieser Person zusammen ist, desto mehr möchte man mit ihr zusammen sein. Das ist die Liebe, die sehr selten vorkommt, und ich hatte das Glück, sie einmal zu erleben. … was das Verlangen und die Liebe angeht, so gehen sie für mich Hand in Hand. Es ist wirklich schwer, zwischen den beiden zu unterscheiden …
(3) Liebe und Verlangen beflügeln einander
Liebe und Begehren sind für diese Befragten einerseits getrennt, andererseits aber nicht unabhängig voneinander, sondern sie beeinflussen, befeuern oder beeinträchtigen sich wechselseitig. Es handelt sich also um ein Interaktions-Modell zwischen Begehren und Liebe.
Liebe und Begehren befinden sich nach diesem Modell jeweils in einem zunehmenden oder abschwellenden Prozess und ziehen sich gegenseitig so ständig herauf oder herunter.
Liebe und Begehren können sich so zeitweise separieren, kommen aber immer wieder zusammen, indem eine Zunahme des einen jeweils – mit zeitlicher Verzögerung – zu einer Zunahmen des anderen führt und umgekehrt eine Abnahme des einen zur Abnahme des anderen:
- Ich denke, dass das Verlangen für mich auch dazu beiträgt, dass die Liebe zurückkehrt.
- Je länger ich mit ihnen (Hinweis: polyamoröse Beziehung) zusammen war und je länger ich das Gefühl hatte, dass mein Verlangen erlahmt war, desto mehr fühlte ich mich nicht mehr mit ihnen verbunden und nicht mehr in sie verliebt.
Eine Befragte schilderte Liebe als etwas latent Vorhandenes, welches in Präsenz der Person wach werden und dadurch sowohl manifeste Liebe wie manifestes Begehren auslöse:
- Wenn man jemanden wirklich liebt, werden diese Gefühle für diese Person wach, sie betritt den Raum, tut oder sagt etwas, erzählt dir etwas, was sie dir vorher nicht erzählt hat, und du überschüttest sie mit Liebe und Sex.
(4) Liebe umschließt und überschreitet Begehren
Diese Teilnehmenden berichteten über eine enge Verbindung von Liebe und Begehren, sehen die Liebe dabei aber als das übergreifende Erleben, von dem Begehren nur eine einzelne Komponente sei:
- Liebe ist für mich etwas, das viel umfasst, und Begehren gehört dazu.
- Begehren ist oft eine Komponente der Liebe, aber diese Liebe ist viel umfassender.
- Ich wollte die Regenschirm-Metapher verwenden, als wäre das Begehren nur eine der Speichen des ganzen Regenschirms der Liebe.
Liebe als das Ganze und Begehren als ein Teil, macht gleichzeitig Liebe auch ohne Begehren denkbar:
- Ist ein Speicher bei einem Regenschirm beschädigt oder nicht vorhanden, bleibt seine Gesamtfunktion nach wie vor erhalten.
Liebe als übergreifendes Konzept ermöglicht insofern stärker als Modelle, die ein klares Zusammenspiel sehen, eine flexiblere Einordnung individueller Verläufe und Beziehungen. Allerdings wird Begehren anders als im Modell der Getrenntheit Begehren klar mit dem übergreifenden Konzept der Liebe verbunden.
Wer hat Recht?
Niemand hat recht oder unrecht. Die dargestellten vier Ansichten sind vier mögliche Modelle – weitere Modelle sind möglich:
- So wäre es denkbar, dass die Zusammenhänge zwischen Liebe und Begehren in der Entstehungsphase einer Beziehung andere sind als bei einer fortbestehenden Beziehung.
Es geht hier nicht darum, was die Zusammenhänge zwischen Begehren und Liebe quasi objektiv sind, sondern es geht um die subjektiven Ansichten und Erlebnisweisen der Beteiligten.
Es gibt keine einzige allein richtige Antwort, sondern Menschen haben unterschiedliche Einstellungen und Erfahrungen und gestalten entsprechend auch ihre Liebesbeziehungen unterschiedlich.
Hilfreich kann es sein, sich der verschiedenen Modelle bewusst zu werden:
- Dies macht es einfacher, bei Bedarf eine Offenheit für den Wechsel des eigenen Modells zu entwickeln, nämlich dann, wenn das aktuelle Modell der Partnerfindung oder der Beziehungszufriedenheit entgegensteht.
Wie unterscheiden sich die verschiedenen Modelle im Hinblick auf ihre Handlungsfolgen und Flexibilität? Der folgende Abschnitt liefert Antworten auf diese Frage.
Handlungsfolgen und Flexibilität
Trennung von Begehren und Liebe
Ein Beispiel für die Trennung von Liebe und Begehren sind asexuelle oder platonische Beziehungen:
- Würden Begehren und Liebe immer zusammengehören oder sich wechselseitig verstärken oder abschwächen, könnte es keine asexuelle Liebe geben.
Ebenso ermöglicht das Modell der Trennung von Liebe und Begehren aber auch die entgegengestezte Form der Beziehung:
- Sex ohne Liebe.
Aus dem Modell der Trennung von Sexualität und Liebe ergeben sich viele weitere Möglichkeiten, traditionelle Liebesbeziehungen zu erweitern:
- Liebe und Begehren können auf unterschiedliche Personen aufgeteilt werden. Es mag beispielsweise eine Liebesbeziehung mit einer Person und eine sexuelle Beziehung mit einer anderen Person geführt werden.
- Offene Beziehungen werden möglich, in denen Paare gemeinsam Sexualität mit Dritten haben, z.B. in Swinger-Clubs, ohne dass es mit diesen zu einer Liebesbeziehung kommen würde.
Das Modell der Trennung zwischen Lieben und Sexualität ist ebenfalls dazu in der Lage, die möglichen Folgen eines „Einschlafens der Sexualität“ in Beziehungen zu begrenzen:
- Da Liebe und Sex getrennt betrachtet werden, braucht die Reduktion oder der Verlust des Begehrens zu keinem Zweifel an der Liebe führen und muss insofern auch nicht notwendigerweise die Beziehungs-Zufriedenheit reduzieren.
Die Trennung von Sexualität und Liebe kann von daher Handlungs- und Interpretationsspielräume erweitern, woraus sich durchaus Auswirkungen ergeben können, die eine Beziehung stabilisieren.
Trotzdem ist die psychologische Wirklichkeit komplex – das Modell der Trennung von Liebe und Sexualität kann ebenfalls abträgliche Folgen haben, indem es die Motivation für Veränderungs-Möglichkeiten senkt:
- Nimmt das Begehren ab, mag dies bei einem Modell der Trennung schnell abgehakt und akzeptiert werden, anstatt nach Möglichkeiten der Reaktivierung von sexuellem Begehren in der Beziehung zu suchen. Dabei gibt es viele Möglichkeiten, sexuelle Begehren in einer bestehenden Beziehung ohne Einbezug Dritter zu reagieren, beispielsweise durch neue, abenteuerliche Aktivitäten, Gespräche über Sexualität und sexuelles Experimentieren.
- Zudem kann das Modell der Trennung von Sexualität und Liebe dazu führen, dass aus einer sexuellen Beziehung keine Liebesbeziehung wird, obwohl die Voraussetzungen eigentlich gegeben wären. Je stärker Personen zwischen Liebe und Sexualität trennen, desto geringer kann die Bereitschaft sein, von einer sexuellen Beziehung zu einer Liebesbeziehung zu gelangen.
- Schließlich kann sich ebenfalls aus dem Modell der Trennung ergeben, dass die Erfahrung von in Liebe eingebetteter Sexualität nicht gemacht wird, die jedoch von vielen als eine besonders wichtige und tiefgreifende Erfahrung erlebt wird. Dadurch können Erlebenismöglichkeiten beschnitten werden.
Diese Gefahren entstehen allerdings nur dann, wenn das Modell sehr starr ausgelegt wird:
- Eigentlich ist das Modell flexibel und postuliert lediglich, dass Begehren und Liebe nicht miteinander einhergehen müssen, was nicht bedeutet, dass sie es nicht können. Bei einer solchen flexiblen Auslegung, ermöglicht das Modell eine Handlungserweiterung und steht tatsächlich keiner Konstellation entgegen.
Liebe und Begehren gehören zusammen
Das Gegenmodell zur Trennung von Begehren und Liebe postuliert einen unerschütterlichen Zusammenhang zwischen Begehren und Liebe, woraus sich ebenso klare Handlungsimplikationen ergeben:
- Sexuelles Experimentieren außerhalb einer Liebesbeziehung wird ausgeschlossen.
Besonders prägnantes Beispiel hierfür sind Demisexuelle, bei denen sexuelles Begehren und Verlangen erst mit der Liebe entstehen.
Positive Beispiele sind zudem jahrzehntelange Paare, die von einer Aufrechterhaltung einer tiefen Liebe mit einem starken Begehren berichten.
Negative Beispiele sind demgegenüber Paare, bei denen es mit der Abnahme des Begehrens zu einer Abnahme der Liebe kommt und letztlich der Weg der Trennung gewählt wird, da die Liebe ohne Begehren als leer erlebt wird.
Solange Liebe und Begehren beide vorhanden sind, ist das Beziehungs-Glück gegeben und das Modell ihres unauflöslichen Zusammenseins ist gut geeignet, um die Betreffenden durch ihre Beziehung zu leiten.
Schwierig wird aber für dieses Modell die Bewältigung, wenn Liebe oder Begehren abnehmen:
- Da Liebe und Begehren als notwendigerweise miteinander verkettet betrachten werden, wird aus dem Verlust des einen auf den Verlust des anderen geschlossen. Dadurch wird eine Kompensation erschwert, bei der hohe Liebe für den Verlust des Begehrens abfedert, oder umgekehrt ein hohes Begehren das Interesse an der Beziehung – trotz eines erlebten Verlust der emotionalen Zuwendung – aufrechterhält.
- Das Modell der Gleichsetzung von Liebe und Begehren stabilisiert eine Beziehung also nur solange, wie beide in hohem Ausmaß gegeben sind. Kommt es aber zu einer Abnahme von Begehren oder Liebe, wird die Beziehung schnell als Ganzes gefährdet. Aus einer eigentlich nur temporären Schwankung einer Komponente, kann somit schnell ein Abschwung in der gesamten Beziehung entstehen.
Im Islam oder auch im Judentum haben Frauen traditionell das Scheidungsrecht, wenn der Mann sie – beispielsweise aufgrund von Erektionsausfall – nicht mehr sexuell befriedigen kann. Im Hintergrund steht hier das Modell des notwendigen Zusammenhanges von Liebe und sexuellem Begehren.
Verläufe, bei denen die Liebe erhalten bleibt oder gar zunimmt, aber das Begehren schwindet, lassen sich mit dem Modell nicht erklären. Die Gefahr ist, dass bei einem stark internalisierten Modell des Zusammenhanges von Liebe und Begehren solche Verläufe nicht zugelassen werden.
Andererseits mag das Modell die Motivation stärken, immer wieder an Begehren und Liebe zu arbeiten und nicht vorschnell eine Abnahme von Leidenschaft und Begehren zu akzeptieren.
Interaktion von Begehren und Liebe
Deutlich flexibler ist das interaktive Modell, wo sich Liebe und Begehren zwar wechselseitige verstärken oder abschwächen, aber nicht zur gleichen Zeit immer die gleiche Intensität aufweisen müssen:
- Dieses Modell erlaubt es Paaren besser, Zeiten zu überstehen, in denen eine Komponente abnimmt.
- Selbst wenn hieraus ebenfalls eine Abnahme der anderen Komponente folgen mag, besteht doch die Aussicht, dass umgekehrt der aus anderen Gründen erreichte Aufschwung einer Komponente später wiederum der anderen Komponenten ebenfalls erneut Auftrieb geben wird.
Schwankungen von Begehren und Liebe werden in diesem Modell in gewisser Weise normalisiert und damit ihre Bewältigung gefördert. Auch entsteht ein Verständnis dafür, dass temporär Liebe und Begehren durchaus auseinanderlaufen können.
Zudem lassen sich Möglichkeiten ableiten, die Beziehung zu verbessern:
- Da Begehren Liebe und Liebe Begehren fördert, kann die Arbeit an der Neu-Entflammung der Leidenschaft mit zeitlicher Verzögerung die Liebe fördern. Ebenso lohnt es sich an der Liebe zu arbeiten mit der Aussicht, dass mit sich vertiefender Liebe auch die Leidenschaft erneut zunimmt.
Liebe wird in diesem Modell weniger statisch und stärker dynamisch gesehen. So steigt die Toleranz gegenüber Schwankungen. Dies kann die Fähigkeit verbessern, mit Veränderungen umzugehen und temporäre Abschwünge gemeinsam zu bewältigen – ohne sofort grundlegend an der Beziehung zu zweifeln.
Allerdings bleibt die Flexibilität des Modells dennoch begrenzt – so kann das interaktive Modell nicht erfassen, dass sich Liebe und Begehren in Beziehungen dauerhaft in die entgegengesetzte Richtung entwickeln können:
- Es gibt Paare, die eine Vertiefung ihrer Liebe bei einer systematischen und manchmal sogar vollständigen Abnahme des Begehrens beschreiben. Solche Paare können durchaus glücklich miteinander sein und eine jeweils hohe Lebenszufriedenheit erreichen. Das Modell sagt aber voraus, dass die Abnahme im sexuellen Begehren sich letztlich negativ auf die Liebe auswirken sollte oder die Zunahme der Liebe positiv auf das Begehren. Bei vielen Paaren ist dies jedoch nicht der Fall.
- Auch asexuelle Beziehungen oder rein sexuelle Begegnungen ohne Liebe werden durch dies Modell ausgeschlossen – es gibt sie aber.
Liebe umschließt und umschreitet Begehrens
Das Modell der übergreifenden Liebe, die Begehren als eine Komponente der Liebe einschließen kann (aber nicht muss), erweitert im Vergleich zu den vorher diskutierten beiden restriktiveren Modellen den Aktions- und Verarbeitungsradius von Paaren:
- Sexualität wird als eingebettet in eine Liebesbeziehung betrachtet, aber letztlich ist die Liebe viel umfassender, größer und wichtiger als das sexuelle Begehren, sodass die Liebe bei Schwankungen des sexuellen Begehrens oder gar bei dessen Wegfall dennoch bestehen bleiben oder sich sogar vertiefen kann.
Analog zu einer beschädigten oder fehlenden Speiche beim Regenschirm, mag zwar ein gewisser Verlust entstehen. Dieser braucht aber nicht die Beziehung zu prägen und kann kompensiert werden, wenn die anderen Speichen halten.
Das Modell der übergreifenden Liebe weist insofern einen ähnlich hohen Flexibilitätsgrad auf wie das Modell der Trennung von Liebe und Begehren. Dennoch zeigen sich Begrenzungen:
- Das Modell der übergreifenden Liebe umfasst die rein sexuellen und nicht in Liebe eingebetteten sexuellen Kontakte nicht.
- Auch offene Beziehungen mit nicht auf Liebe beruhenden sexuellen Kontakten zu Dritten sind mit dem Modell der übergreifenden Liebe nicht vereinbar, weil in diesem Modell Begehren bereits eine Komponente der Liebe ist und insofern ohne Liebe nicht möglich ist.
Für Personen, die keine rein sexuellen Kontakte und keine offenen Beziehungen wünschen, ist das Modell der übergreifenden Liebe sehr gut geeignet, um einerseits eine Integration von Sexualität und Liebe zu erreichen, andererseits aber im Fall dessen, dass das Begehren abnimmt, hiermit gut umgehen und eine Beziehung mit Zufriedenheit fortsetzen zu können.
Ist und Soll
Wichtig ist es, zwischen dem normativen und dem empirischen Charakter der dargestellten Modelle zu unterscheiden:
- Normativ ist das, was sein soll und ist entsprechend in moralische Bewertungen eingebunden, die historisch oft religiösen Ursprunges sind oder mindestens durch die Religionen stark verankert wurden und teilweise noch werden.
- Empirisch ist die Beschriebung dessen, was auftritt und erlebt wird, egal, wie dies bewertet wird. Das, was ist, kann sich dabei stark von dem unterscheiden, was postuliert wird. Zudem kann sich das, was ist, wiederum zwischen einzelnen Menschen unterscheiden, oder auch innerhalb des einen selben Menschen verändern. Es bleibt nicht immer alles gleich im Leben und dies gilt auch für Begehren und Liebe.
Werden die Modelle normativ betrachtet, schildern sie nicht, was Menschen erleben, sondern schreiben vor, was sie zu erleben haben. In dem Moment, wo sie als verpflichtend gesehen werden, werden sie aber starr, werden der Unterschiedlichkeit von Menschen sowie der Veränderungen in einem individuellem Lebenslauf nicht gerecht oder blockieren Entwicklungen.
Löst sich ein von uns vertretenes Modell über Begehren und Liebe in unserem Lebenswandel nicht ein, werden wir unzufrieden mit unserer Beziehung und oft auch mit uns selbst.
Anstatt in Unzufriedenheit zu verharren oder die Beziehung zu beenden, kann in manchen Fällen der Wechsel des Beziehungsmodells helfen, in anderen Fällen ist es eher eine Frage der Partnerwahl.
Die Bereitschaft zum Wechsel des Modells kann helfen, die Beziehung und die eigenen Zufriedenheit zu stabilisieren – zwei Beispiele hierfür:
- Solange wir gleichstarke Liebe und gleichstarkes Begehren erleben, steht nichts dem Modell der gleichen Stärke beider Komponenten entgegen. Nimmt aber das Begehren ab, würden wir – spätestens wenn wir dies nicht rasch ändern können – bei Festhalten an diesem Modell die Liebe gefährden, da diese ja angeblich nicht bleiben kann, wenn das Begehren geht.
- Sind beide Partner:innen in einer Beziehung sexuell zufrieden und ist die Liebe groß, gibt es keinen Grund, zwischen Liebe und Sexualität differenzieren zu wollen. Zeigt sich aber, dass die sexuellen Bedürfnisse einer oder beider Seiten in dieser Konstellation nicht erfüllbar sind, ermöglicht das Modell der Trennung von Sexualität und Liebe eine Aufrechterhaltung der Beziehung bei gleichzeitiger Ausweitung der sexuellen Erlebnismöglichkeiten, beispielsweise über eine offene Beziehung mit sexuellen Kontakten zu Dritten.
Eine vollständige Trennung von Liebe und Sexualität wählen allerdings nur wenige und die meisten erleben einen doch mehr oder weniger starken Bezug zwischen Liebe und Sexualität. Für manche führt dies zur Erfüllung, für andere zur Trennung und für wiederum andere zur Frustration oder zur Veränderung ihres bisherigen Modells. Die Verläufe sind verschieden und eine allgemeine Regel gibt es nicht.
Empfehlungen zum eigenen Modell und zur Partnerfindung
Wie umgehen mit sexuellem Begehren und Liebe?
Die wichtigste Empfehlung lautet, offen zu bleiben für einen Wechsel des eigenen Modells, wenn ein Wechsel des Modells in der aktuellen Lebens- und Beziehungskonstellation ein größeres Ausmaß an Glück und Erfüllung ermöglicht.
Hierzu gehört eine Offenheit für Erfahrungen, die auch den Mut beinhaltet, sich über internalisierte normative Modelle hinwegzusetzen, die nicht immer der Realität des menschlichen Erlebens gerecht werden und Handlungsspielräume einschränken können.
Die zweite Empfehlung lautet von daher, sich von letztlich irrationalen Vorgaben normativer Modelle freizumachen und zu der Gestaltungsart von Liebe und Begehren zu gelangen, die den eigenen und wechselseitigen Bedürfnissen in einer Beziehung am besten entspricht.
Die dritte Empfehlung bezieht sich auf die Partnerfindung:
- Auch wenn die Modelle schwanken können, gibt es doch auch relativ stabile Tendenzunterschiede zwischen Menschen. Für das Beziehungsglück ist es wesentlich, ein gemeinsames Modell zu finden, auch wenn dies nicht in Stein gemeißelt ist und Veränderungen oder Anpassungen in der Zukunft durchaus erfolgen können.
Bei Gleichklang unterscheiden wir hier u.a. zwischen dem Wunsch nach einer festen und monogamen Zweierbeziehung, dem Interesse an einer offenen Beziehung mit sexuellen Kontakten zu Dritten oder dem Streben nach einer polyamorösen Liebesbeziehung mit mehr als zwei Personen.
Auch die Bedeutsamkeit der Sexualität in der Beziehungsentstehung und Beziehungsführung gehen in das Matching ein mit Ausprägungen, die von „sollte sofort vorhanden sein“ bis hin zu „möchte keinen sexuellen Kontakt“ reichen.
Eine Passung der Einstellungen zu Begehren und Liebe am Anfang einer Beziehung ist hilfreich, um eine Basis miteinander aufbauen und in Harmonie mit sich sicherlich ebenfalls zeigenden Unterschiede umgehen und Unklarheiten klären zu können.
Dabei braucht nicht ein einziges Modell vorzuliegen, sondern verschiedene Optionen und Alternativen können von zwei Personen gesehen und für möglich betrachtet werden. Wichtig ist, dass eine Schnittmenge erkennbar ist.
Ungünstig ist es demgegenüber, wenn sich einander ausschließende Modell von Anfang an gegenüberstehen, beispielsweise wenn ein klares Plädoyer für die Trennung von Sex und Begehren auf ein ebenso klares Plädoyer trifft, dass Liebe und Begehren immer zusammengehören müssen:
- In solchen Beziehungen werden vermutlich Spannungen entstehen und die Beziehungszufriedenheit wird leiden.
Anders ist dies wiederum, wenn sich zeigt, dass zwar Tendenzunterschiede bestehen, aber auf beiden Seiten Offenheit vorliegt, das eigene Modell als allein seligmachendes Modell zu hinterfragten und so aufeinander zuzugehen.
Trotz aller unterschiedlichen Sichtweisen sind Liebe und Begehren über die Gesamtheit betrachtet letztlich psychologisch sicherlich nicht komplett unabhängig voneinander:
- Statistisch gesehen gehen sexuelles Begehren und Liebeserleben oft miteinander einher. Es handelt sich nicht um zwei Erlebensbereiche, die nichts miteinander zu tun haben. Im Einzelfall kann das Erleben aber anders sein.
Menschen unterscheiden sich dahingehend, wie nah der Zusammenhang zwischen sexuellem Begehren und Liebe ist. Dies kann bis hin zu einer weitergehenden Trennung beider Erlebensbereiche voneinander gehen, wenn einzelne Personen oder Paare in offenen Beziehungen sexuelle Kontakte zu anderen Menschen pflegen, die sie nicht lieben.
Solange Menschen offen und authentisch miteinander umgehen, sind alle Formen der Gestaltung von sexuellem Begehren und Liebe legitim und Paare können in ihrer Beziehung ihre Modelle immer wieder soweit anpassen, dass sie glücklich miteinander bleiben können.