Was ist Liebe?
Mein heutiger Blog-Artikel ist angeregt durch die Forschungen von Simon Watts und Paul Stenner, die unterschiedliche Definitionen der Liebe bei Frauen untersuchten.
Ich folge zunächst den Interpretation der Autoren, denen es um verschiedenartige Definitionen geht, um im Anschluss von der Differenzierung zur Gemeinsamkeit zu gelangen, nämlich zu der Frage:
- “Was sind die Grundvoraussetzungen, die in jeder Liebe enthalten sein müssen?”
Dieser Frage wurde zwar von den Autoren selbst nicht nachgegangen, ihre Daten liefern hierzu aber interessante Erkenntnisse.
Untersuchungsansatz von Watts und Stenner
Simon Watts und Paul Stenner baten zunächst 50 Frauen, Liebe zu definieren, indem sie Worte aufschrieben, die sie mit Liebe assoziieren. Ein resultierende Pool von 152 Attributen wurde durch Ausschluss von Worten, die von weniger als 10% der Stichprobe erwähnt wurden, auf 54 Attribute reduziert.
- Auszug aus den Attributen: Bewunderung, Zuneigung, Anziehung, Zugehörigkeit, Fürsorge, Veränderbarkeit, Vertrautheit, Behaglichkeit, Verbindlichkeit, Kommunikation, Kameradschaft, Anteilnahme, Rücksichtnahme, Zufriedenheit, Anspruchsvoll, Verlangen, Erregung, Ausschließlichkeit, Gefühle, Freundschaft, Spaß, Geben, Intimität, Freude, Leidenschaft, Respekt, Romantik, Sex, Spiritualität, Zusammengehörigkeit, Bedingungslos und weitere …
Im Anschluss wurden 59 andere Teilnehmerinnen gebeten, diese Eigenschaften nach ihrer Wichtigkeit zu sortieren. Die resultierenden 59 Profile wurden mit einem statistischen Verfahren (Faktorenanalyse) auf sechs übergreifende Grunddimensionen reduziert.
Sechs verschiedene Modelle der Liebe
Im Ergebnis bringt die Analyse so in jeder Grunddimension Teilnehmerinnen mit einem ähnlichen Bild der Liebe zusammen. Umgekehrt macht dies gleichzeitig die Unterschiedlichkeit der subjektiven Modellhaltungen zur Liebe sichtbar, indem die Teilnehmerinnen anhand dieser Definitionen voneinander unterschieden werden:
- Liebe als Anziehungskraft, Leidenschaft und Romantik: Liebe in diesem Sinne ist assoziiert mit starker Attraktion, Romantik und Glück. Beziehungspartner:innen fühlen sich stark voneinander angezogen, erleben eine tiefe romantische Verbindung, die mit hohem Glücksempfinden besetzt ist.
- Liebe als bedingungsloser Zustand: Bei dieser Definition steht die Bedingungslosigkeit der Liebe im Vordergrund. Ansprüche sind reduziert, sogar der Anspruch auf Dauerhaftigkeit tritt zurück. Liebe spielt sich im Hier und Jetzt ab. Erhöht ist das (unmittelbare) Verstehen. Zitat aus der Selbstschilderung einer Teilnehmerin: “da zu sein, wann immer oder was auch immer passiert”.
- Liebe als Sex: Liebe und Sex sind in dieser Definition untrennbar miteinander verbunden. Exklusivität weist den geringsten Wert alle Definitionen auf. Sex wird dabei jedoch nicht ausschließlich als Ausdruck von körperlicher Lust gesehen, sondern auch als spirituelle Verbundenheit erlebt. Konsensuelle Nicht-Monogamie,aber auch Tantra-Praktiken ließen sich gut mit dieser Form der Liebe verbinden.
- Liebe als göttlich-spirituelle Ordnung: Auch diese Liebe gibt es weiterhin. Eine Beziehung wird als eingebettet in spirituell-religiöse Überzeugungen erlebt. Attraktion und Sex wird in diesem Modell die geringste Rolle zugewiesen, am stärksten betont werden Freundschaft und Respekt. Vermutlich tritt diese Liebe vorwiegend in konservativer denkenden, traditionelleren Religionsgemeinschaften auf (z.B. im christlichen Bereich konservative Katholiken, Mormonen etc.).
- Liebe als dauerhafte Bindung: Diese Definition betont am relativ stärksten die Dauerhaftigkeit und Permanenz der Liebe, die auch in schwierigen Situationen aufrechterhalten bleibt. Kommunikation und Freundschaft spielen eine starke Rolle.
- Liebe als Verbindung unabhängiger Menschen: Liebe als freundschaftliches und respektvolles, sich verstehendes und unterstützendes Miteinander zweier eigenständiger Menschen, die durchaus klare Vorstellungen haben und deren Freiheit ohne Anspruch auf Permanenz der Beziehung wichtig ist.
Was ist die Essenz der Liebe?
Geschlechter-Fragen
Ich denke die dargestellten Bilder oder Modelle der Liebe erklären sich im wesentlichen selbst. Sicherlich gibt es weitere Bilder, Gestaltungs- und Erlebensmöglichkeiten, die in der untersuchten Stichprobe der Autoren nicht enthalten waren.
Auch wenn die Untersuchung ausschließlich Frauen einbezog, habe ich wenig Zweifel, dass sich ähnliche Muster ebenso bei Männern oder nicht-binären Personen zeigen werden. Tatsächlich fallen viele Ähnlichkeiten und Parallelitäten zu anderen psychologischen Konzepten der Liebe, wie den 33 Dimensionen der Liebe nach Victor Karandashev und Stuart Clapp auf, die bei Männern und Frauen untersucht wurden.
Die Autoren unterscheiden übrigens tatsächlich zwischen “maskulinen” und “femininen” Definitionen der Liebe, wobei sie zu den maskulinen Formen rechnen Anziehungskraft, Leidenschaft und Romantik und Liebe als Sex, sowie zu den femininen Formen Liebe als bedingungslosen Zustand und Liebe als dauerhafte Bindung.
Aus der erheblichen Häufigkeit von Anziehungskraft, Leidenschaft und Romantik sowie Liebe als Sex bei ihren weiblichen Teilnehmenden schließen die Autoren, dass diese Frauen ein maskulines Modell der Liebe übernehmen würden. Aus dem Auftreten von Liebe als bedingungsloser Zustand und Liebe als dauerhafte Bindung schließen sie, dass die entsprechenden Frauen an femininen Modellen festhalten würden.
Mir erschließt sich diese Argumentation aus den Daten nicht, zumal Vergleiche mit männlichen Probanden fehlen. Ich sehe es nicht als notwendig an, hier von weiblicher oder männlicher Liebe zu sprechen oder darüber, dass Frauen männliche Vorstellungen von Liebe annehmen oder an weiblichen festhalten würden.
Es handelt sich nach meiner Lesart bei den identifizierten Dimensionen in der Studie von Watts und Stenner um Liebeskonzepte, die jeder Mensch annehmen oder ablehnen kann, und für die wir keine geschlechtstypische Klassifizierung brauchen.
Basisparameter der Liebe
Ich möchte jedoch vor allem den Blick anhand der gleichen Daten auf eine andere Perspektive legen, nämlich auf das, was offenbar in jeder Form der Liebe notwendig ist.
Dies ist möglich, indem der Fokus gerichtet wird auf die Attribute, die in allen sechs Dimensionen enthalten sind. Denn diese unterscheiden offensichtlich nicht zwischen verschiedenen Liebes-Modellen, sondern verbinden sie.
So ergibt sich folgendes Ergebnis:
- Alle sechs Definitionen von Liebe brauchen “Kommunikation”, “Freundschaft”, “Vertrauen”, “Ehrlichkeit”, “Respekt” und eine “Atmosphäre ohne Angst”.
Damit ergibt sich eine Qualifizierung der oben in knapper Form charakterisierten sechs Definitionen der Liebe, indem nämlich das, was bei allen vorhanden ist, als Grundvoraussetzung jeder Liebe und damit auch der geschilderten sechs Erscheinungsformen betrachtet wird.
Die Bedingung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Liebe sind “Kommunikation”, “Atmosphäre ohne Angst”, “Vertrauen”, “Ehrlichkeit”, “Respekt” und “Freundschaft”:
- Begegnung, Verstehen und Kooperation machen fortwährende Kommunikation erforderlich.
- Geschieht diese in einer Atmosphäre der Angst werden jedoch weder Selbstöffnung noch Problemklärung erfolgen.
- Vertrauen ermöglicht es, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, nicht jeden Vorgang zu kontrollieren und nicht an allem zu zweifeln. Beziehungspartner:innen sind keine Kontrolleure, sondern ein Team.
- Echte Liebe bezieht sich auf die wirkliche Person. Präsentieren wir jemanden ein Lieblingsgericht als Kartoffeln, obgleich es Reis ist, mag diese Person tatsächlich keine Kartoffeln, sondern Reis, selbst wenn sie es nicht weiß. Ohne Ehrlichkeit ist echte Liebe also nicht möglich. Alles andere ist Illusion.
- Keine zwei Menschen sind identisch, unterschiedliche Haltungen selbst in wichtigen Fragen werden entstehen oder sichtbar werden. Mit Respekt lassen sie sich klären, so dass die Liebe bestehen bleibt.
- Himmelhochjauchzende Gefühle genügen nicht, Liebende müssen Freund:innen sein, um gemeinsam durchs Leben zu gehen.
Was wären also die verschiedenen Modelle der Liebe ohne diese verbindenden Komponenten?
- Liebe als Anziehung, Leidenschaft und Romantik wäre nur ein Faible, Liebe als Sex wäre schnell gesättigt, Liebe als göttlich-spirituelle Ordnung wäre ein Sich-Fügen, Liebe als dauerhafte Bindung wäre leer, Liebe als Verbindung unabhängiger Menschen wäre reiner Egozentrismus und Liebe als bedingungsloser Zustand wäre bald verweht.
- Erst “Kommunikation”, “Atmosphäre ohne Angst”, “Vertrauen”, “Ehrlichkeit”, “Respekt” und “Freundschaft” machen all diese interpersonalen Verbindungen zu dem, was wir Liebe nennen.
- Selbst “bedingungslose” Liebe gibt es also nur unter der Voraussetzung von Bedingungen.
Quintessenz
Es gibt unterschiedliche Formen der Liebe. Ihnen zugrunde liegen aber fundamentale Parameter jeder Form von Liebe.
Die vielen interessanten Unterschiede entstehen erst, wenn zu dieser für jede Liebe unabdingbaren Basis weitere Aspekte hinzugefügt werden:
- Für die einen ist es Anziehung und Leidenschaft, für andere Spiritualität oder eine göttliche Ordnung, für manche Sex, das bedingungslose Hier und Jetzt, die Unabhängigkeit zweier Menschen oder eben die dauerhafte Permanenz.
Ist die Basis gegeben, mögen alle diese Beziehungen und viele denkbare weitere glücklich werden.