Was macht sexuell zufrieden oder unzufrieden?
3485 Frauen, 1656 Männer und 72 Menschen mit nicht-binärem Geschlecht haben bereits unseren Sexualitäts-Erlebens-Test (SET) ausgefüllt.
Der Altersbereich der Teilnehmenden schwankt zwischen 18 und 84, wobei das Durchschnittsalter 44 Jahre betrifft.
Die 11 Grunddimensionen der sexualitätsbezogenen Erlebens, die dieser Test misst, werden in diesem vorherigen Blog-Artikel ausführlich beschrieben, sodass ich in diesem Artikel nicht näher auf sie eingehen werde.
Vielmehr geht es in diesem Artikel ausschließlich um die Frage “Was macht sexuell zufrieden?”
Zur Beantwortung dieser Frage habe ich getrennt für alle drei Geschlechter die 15 Fragen zur sexuellen Zufriedenheit im SET aufsummiert. Im Anschluss habe ich die sexuelle Zufriedenheit durch die weiteren 10 Summenskalen (sexuelle Hemmungen, sexuelle Dysfunktion, Experimentierfreude, Sucht, BDSM, Asexualität, Selbsterfahrung, Liebesbezug, Fluidität, instrumentelle Sexualität) statistisch “vorhersagen” lassen.
Ergebnisse
Mit erstaunlicher Eindeutigkeit zeigt sich folgender Hauptbefund:
- sexuelle Hemmungen sind der einzige Faktor, der mit sehr hohem Gewicht bei allen drei Geschlechtern sexuelle Unzufriedenheit vorhersagt. Umgekehrt führt entsprechend die Abwesenheit von Hemmungen zu sexueller Zufriedenheit.
Was sind sexuelle Hemmungen und warum machen sie unzufrieden?
Menschen, die sexuelle Hemmungen haben, kennzeichnen sich durch ein mangelndes Vermögen offen, frei, selbstbewusst, positiv mit der eigenen Sexualität umzugehen und dies auch in der verbalen und nonverbalen Kommunikation mit einem Beziehungspartner zum Ausdruck zu bringen.
Wieso machen Hemmungen sexuell unzufrieden?
Unzufrieden macht uns alles, was dazu führt, dass uns erwünschte positive Erlebnisse versagt bleiben und/oder dass wir negativen Erlebnissen ausgesetzt sind, die wir nicht wünschen.
- wir sind zu Besuch und trauen uns nicht zu sagen, dass wir gegen ein extra für uns zubereitetes Gericht eine Aversion haben. Im Ergebnis mögen wir uns zwingen, es zu essen. Überwinden wir die Hemmung nicht, unsere Aversion offen anzusprechen, mögen wir uns künftig erneut zwingen oder beginnen, weitere Besuche zu vermeiden.
- ein Besuchsprogramm wurde für uns ausgearbeitet, aber das, was uns am meisten interessiert, steht nicht drauf. Sagen wir es nicht, wird uns ausgerechnet das entgehen, worauf wir uns am stärksten gefreut haben.
Eigentlich müssten solche Konstellationen übrigens gar nicht eintreten:
- sprechen wir von vornherein offen über alles, kommen weder wir noch andere in die Verlegenheit, Bedürfnisse erraten zu müssen oder zu meinen, aufgrund vollendeter Tatsachen eigene Bedürfnisse nicht ansprechen zu können.
Offenheit und Ehrlichkeit sind das A und O in menschlichen Beziehungen. Nur durch Offenheit und Ehrlichkeit können die Bedürfnisse aller zum Ausdruck kommen oder allen gerecht werdende Kompromisse erschlossen werden.
Der Schlüssel zur Überwindung sexueller Hemmungen und zur Realisierung sexueller Zufriedenheit liegt somit in radikaler sexueller Ehrlichkeit bei der Partnersuche, beim Beziehungsaufbau und der Beziehungsgestaltung – worüber ich bereits in einem vorherigen Artikel geschrieben habe.
Wieso sind Menschen sexuell gehemmt?
Es gibt eine allgemeine Schüchternheit, die natürlich auch sexuelle Hemmungen fördert:
Wer ganz allgemein nicht gelernt hat, eigene Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, der fürchtet sich vor Zurückweisung und Kritik und nimmt sich zurück. Hier kann ein Selbstsicherheitstraining helfen, wo in Rollenspielen geübt wird, Kritik zu äußern, sich zu positionieren, Nein zu sagen, Wünsche, Bitten und Forderrungen zu formulieren. Dies kann man natürlich auch selbstständig einüben.
Allgemeine Schüchternheit erklärt jedoch nicht alles.
Denn nicht selten treffen wir auf Menschen, die durchaus im Berufs- und Privatleben ihre Meinung sagen können, sexuell aber plötzlich keine Worte finden.
Wie erklärt sich dies?
Der Grund liegt in der individuellen Lerngeschichte:
- die meisten von uns lernen sehr wohl, beispielsweise beim Essen zu sagen, was ihnen schmeckt. Nicht selten wird dies schon ab der Kindheit damit belohnt, dass vermehrt solche leckeren Gerichte gekocht werden.
- auch wohin wir gerne gehen, welche Musik wir mögen, überhaupt, was uns interessiert, lernen wir, zu benennen. Selten werden wir dafür bestraft, meistens eher belohnt, indem wir die zum Ausdruck gebrachten Dinge häufiger tun können, als wenn wir sie verschweigen würden. So lernen wir also, zu sagen, was uns bewegt und dies dadurch auch zu erhalten.
Ganz anders sieht es jedoch oft mit dem Gespräch über Sexualität aus:
- ich erinnere mich noch an die wütenden Proteste gegen Sexualaufklärung an den Schulen, wo sich vor einigen Jahren diverse Initiativen dagegen wehrten, dass Schüler und Schülerinnen im Unterricht über verschiedenartige sexuelle Orientierungen, sexuelle Ausdrucksformen und partnerschaftlicher Beziehungsformen informiert werden und lernen sollten, hierüber zu sprechen.
Den Kindern solcher Eltern wird es vermutlich – auch wenn sie längst erwachsen sind – noch schwerfallen, ihre sexuellen Wünsche zu verbalisieren. Sie werden wahrscheinlich so wie ihre Eltern später in Partnerschaften leben, wo selbst nach Jahrzehnten der eine nicht vom anderen weiß, wie er oder sie sexuell tickt und was ihm oder ihr sexuell fehlt.
Sexuelle Hemmungen entstehen, wenn wir nicht lernen, offen über Sexualität zu sprechen, oder wenn unsere Ansätze dazu, abgewürgt oder durch negative Reaktionen unserer sozialen Umwelt sanktioniert werden.
Sexuelle Hemmungen können sich noch weiter vertiefen, wenn wir solche negativen Reaktionen in unserer Lerngeschichte internalisieren und selbst zu sexual-negativen Einstellungen oder sexualfeindlichen Ideologien gelangen.
Es wäre ein Irrtum zu meinen, dass sexualfeindliche Ideologien gesellschaftlich überwunden wären. Sie bestehen mehr oder weniger manifest oder latent fort und greifen weiterhin prägend in die Lebens- und Sexualitätsgestaltung nicht weniger Menschen bewusst oder unbewusst ein. Sie sind ein Ballast, der nicht einfach abzuwerfen ist.
Dies sehe ich übrigens auch immer wieder an gelegentlich, aber regelmäßig eintreffenden Zuschriften an mich, wie vor zwei Tagen die Folgende:
- “würden Sie mich bitte mit Ihrer ganzen LGBT– und perversen Sippe verschonen? Selbst im spam kriege ich schon Horrorgefühle.”
Ich weiß nicht, auf was sich die Betreffende bezieht, vermutlich waren es allein die Fragen, die für die Teilnahme gestellt werden. Was sich hier nach außen als Aggression, ja Hass zeigt, entspricht vermutlich im Inneren massiven sexuellen Hemmungen. Hierauf weisen jedenfalls eine Reihe von Studien hin, die nahelegen, dass beispielsweise gerade homophobe Menschen (um an das Beispiel anzuknüpfen) oft selbst unterdrückte homosexuelle Tendenzen haben.
Meistens sind es aber nicht einmal solche tiefgreifenden sexual-negativen Einstellungen, sondern es ist die mangelnde Übung in sexueller Offenheit, die zu Gehemmtheit führt:
- was wir nicht üben, beherrschen wir eben in der Regel auch nicht.
Was tun gegen sexuelle Hemmungen?
Das Gegenprogramm gegen sexuelle Hemmungen besteht darin, selbst über die eigenen sexuellen Bedürfnisse nachzudenken und über Sexualität zu sprechen.
Wir beginnen mit uns selbst und übertragen dies auf die Beziehungsebene in dem Moment, wo dies möglich und sinnvoll ist:
- über die eigenen sexuelle Wünsche nachdenken, diese zuzulassen, sexuelle Gedanken nicht unterdrücken, sich sexuellen Genuss auch innerlich zugestehen
- Vorstellungen und Fantasien über eine befriedigende Sexualität entwickeln
- über Sexualität lesen und mit Freundinnen oder Freunde über die Bücher reden
- sich eine offene Kommunikation über Sexualität und eine befriedigende sexuelle Praxis mit einem Beziehungspartner vorstellen und auf der Vorstellungsebene bereits einüben, selbst wenn ein Beziehungspartner noch nicht vorhanden ist
- das Gespräch über Sexualität suchen, wenn sich eine Beziehung entwickelt, über sich selbst sprechen und Fragen stellen
- durch fortgesetzte Übung erfahrungsbasiert lernen, dass eine entspannte Kommunikation über Sexualität möglich ist
Mit der Beseitigung von sexuellen Hemmungen können Sie beim wichtigsten Faktor ansetzen, um die Basis für Ihre aktuelle oder künftige sexuelle Zufriedenheit zu schaffen.
Manche Leserinnen oder Leser mögen meinen, zunächst müsse ein Beziehungspartner vorhanden sei, bevor das Thema der sexuellen Zufriedenheit überhaupt thematisiert zu werden brauche. Ähnliche Rückmeldungen erreichen mich auch bei anderen Themen im Blog, gelegentlich nach dem Motto, dass vor dem Finden einer Beziehung alles andere irrelevant sei.
Dies halte ich aber für einen Irrtum. Sachlage ist, dass Studien zeigen, dass sich ungünstige Beziehungsmuster aus der Vergangenheit oft in der Zukunft wiederholen, wenn nichts dagegen getan wird.
Bei der Partnerfindung geht es nicht nur darum, einen Partner zu finden, sondern die Voraussetzungen für ein anhaltendes Partnerglück zu schaffen. Dies beginnt nicht erst mit der Partnerfindung, sondern bereits vorher bei uns selbst, indem wir uns positiv verändern.
Wir brauchen nicht zu warten, bis “das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“, sondern wir können und sollten bereits bevor eine neue Beziehung überhaupt entstanden ist, daran arbeiten, dass ungünstige Muster künftig gar nicht erst erneut entstehen:
- das Potenzial zu sexueller Zufriedenheit oder Unzufriedenheit tragen wir schon in uns, selbst wenn noch kein Beziehungspartner vorhanden ist.
- bringen wir sexuelle Hemmungen mit in die neue Beziehung, werden diese häufig fortbestehen und unsere sexuelle Zufriedenheit vermindern.
Es lohnt sich also, bereits jetzt damit zu beginnen, sexuelle Hemmungen hinter uns zu lassen und so unser Potenzial für sexuelle Zufriedenheit zu entwickeln.
Für manche mehr, für manche weniger
Übrigens bedeutet die Empfehlung “sexuelle Hemmungen hinter sich lassen” keineswegs notwendigerweise, die Intensität von Sexualität zu steigern oder die Vielgestaltigkeit sexueller Praktiken zu erhöhen. Dies mag so sein, muss es jedoch nicht, da es ja eben darum geht, die eigenen sexuelle Wünsche zu ergründen und sie dann wechselseitig mit dem Beziehungspartner auszutauschen.
Manche Menschen haben tatsächlich wenige oder sogar keine sexuellen Bedürfnisse (Asexualität) und dies muss nicht an Hemmungen liegen. Ein ungehemmter Umgang mit Sexualität bedeutet in diesen Fällen, dass geringe oder fehlende Bedürfnis nach Sexualität anzunehmen und offen damit umzugehen. In anderen Fällen mag es demgegenüber umgekehrt bedeuten, mehr Sexualität oder eine andere Art von Sexualität erleben zu möchten und durch Offenheit auch zu können.
Mit einer Reihe von Suchkriterien versuchen wir bei Gleichklang, eine gute Passung auch der sexuellen Erlebensbedürfnisse für die Partnerfindung zu ermöglichen. Dies kann aber das Bemühen um die Überwindung sexueller Hemmungen und für eine offene und ehrliche sexuelle Kommunikation miteinander nicht ersetzen – hier sind Sie weiterhin selbst gefragt.