Irritationen im Kennenlernprozess
Mein letzter Blog-Artikel handelte von Toxischen Beziehungen und welche Warnsignal erkennbar sind.
Mein heutiger Artikel handelt von einem gänzlich anderem Thema, welches aber dennoch eine hohe Verwechslungsgefahr beinhaltet:
- Irritationen im Kennenlernprozess
Irritationen können verstanden werden als Turbulenzen, die auftreten, wenn sich zwei Menschen kennenlernen und ihre Beziehung vertiefen:
- es fallen Dinge auf, die unschön erscheinen, die vielleicht eine unangenehme Überraschung sind oder auf die mit Enttäuschung reagiert wird.
- Verhaltensweisen, Gewohnheiten oder der Alltag der anderen Person beginnt, mit dem eigenen Alltag und dem eigenen Lebensstil zu interferieren, was als störend erlebt werden kann.
- es entsteht eine Unsicherheit über werdende Beziehungspartner:innen, die eigenen Beziehungswünsche und die Beziehung an sich.
Innerpsychisch werden solche Irritationen als Stress erlebt.
Solomon und Knobloch (2004) haben in einer Studie mit Studenten in heterosexuellen und homosexuellen Beziehungen die Zusammenhänge zwischen Vertrautheit, Beziehungsunsicherheit und Irritationen untersucht.
Sie machten dabei – komprimiert dargestellt – folgende Beobachtungen, die ein besseres Verständnis des Überganges vom Kennenlernen zu einer festen Beziehungen erlauben:
Vertrautheit und Irritationen
- Ist die Vertrautheit noch sehr gering, steigt mit wachsender Vertrautheit das Ausmaß an Irritationen zunächst an. Bei weiter zunehmender Vertrautheit, beginnt aber nunmehr das Ausmaß an Irritationen zu sinken.
Grundsätzlich gilt also, dass Irritationen umso geringer sind, desto vertrauter zwei Personen miteinander sind.
Allerdings gilt dieser Zusammenhang nicht sofort, sondern erst dann, wenn bereits eine gewisse Vertrautheit entstanden ist.
Ist die Vertrautheit demgegenüber noch gar nicht vorhanden, nehmen zunächst Irritationen mit wachsender Vertrautheit zu.
Verdeutlicht wird dieser Zusammenhang in dieser Zeichnung, wobei die Werte sich auf die verwandten Maße für Vertrautheit (von negativ bis positiv) und Irritationen (im Ausmaß ansteigend) beziehen, aber hier keine Rolle zu spielen brauchen.
Zunächst nehmen Irritationen mit wachsender Vertrautheit zu, im weiterhin wachsender Vertrautheit nehmen sie ab:
Beziehungsunsicherheit und Vertrautheit
Abgesehen von der Anfangsphase zeigte sich also in der Untersuchung von Solomon und Knobloch ein negativer Zusammenhang zwischen Vertrautheit und Turbulenzen:
- Je vertrauter, desto weniger Turbulenzen.
Darüber hinausgehend konnten die Autor:innen außerdem zeigen, dass der Einfluss wachsender Vertrautheit auf Irritationen und Turbulenzen durch den Einfluss der Vertrautheit auf die Beziehungsunsicherheit entsteht:
- Je vertrauter Beziehungspartner:innen miteinander sind, desto stärker sinkt ihre Unsicherheit über einander und die eigenen Beziehungswünsche ab.
- diese sinkende Beziehungsunsicherheit führt wiederum zu einer Abnahme von Irritationen und Turbulenzen.
Bedeutung für Übergang zur festen Beziehung
Vertrautheit wächst im Verlauf von Kennenlernen und Beziehungsaufbau an. Beim ersten Kennenlernen ist die Vertrautheit also noch sehr gering und wird im weiteren Verlauf des Kennenlernens bei positivem Verlauf wachsen.
Die werdenden Beziehungspartner:innen erfahren mehr übereinander, verstehen sich wechselseitig besser, fühlen sich zugehöriger und beginnen zunehmend, sich als Paar zu erleben.
Tritt dieser Prozess nicht ein, wird es zur Auflösung des Kontaktes kommen, oder aber Beziehungen werden aus anderen Gründen geschlossen, wie zur Erreichung materieller Vorteile, wegen des sozialen Umfeldes, zur Reduktion von Angst vor Alleinsein, aus rein sexuellen Gründen – viele weitere Gründe sind denkbar.
In der Regel werden aber solche Beziehungen ohne sich entwickelnde Vertrautheit nur selten eine ausreichende oder gar hohe Beziehungszufriedenheit erreichen.
Dem Wachstum von Vertrautheit kommt insofern eine zentrale Funktion für die Entwicklung von Beziehungen zu.
Der entscheidende Faktor – der zu Turbulenzen führen kann – besteht aber nun darin, dass in der allerersten Phase, ausgehend von noch nicht vorhandener Vertrautheit, die nunmehr beginnende Vertrautheit mit mehr Irritationen einhergehen kann.
Der Übergang vom Kennenlernen zur festen Beziehung braucht also emotional nicht stetig, glatt, rein positiv oder ruhig zu verlaufen, sondern es ist im Gegenteil sogar eher typisch, dass es in dieser frühen Phase zu Irritationen kommt.
Wie lässt sich dies erklären?
Ganz am Beginn stehen stehen eine initial erlebte Zuneigung oder ein Interesse und im besten Fall der grundsätzlich beidseitige Wunsch, eine Beziehung aufzubauen. So wird der Prozess des intensiveren Kennenlernens angestoßen.
Durch dies intensivere Kennenlernen wächst die Vertrautheit. Gleichzeitig können nun aber auch verstärkt Merkmale oder Besonderheiten der anderen Person auffallen, die bisher der Aufmerksamkeit entgingen. Hierunter wiederum können ebenfalls Aspekte sein, die – jedenfalls zunächst – als negativ, enttäuschend oder störend erlebt werden.
Selten oder fast nie werden sich Menschen in allen ihren Erwartungen, Ansichten und Gewohnheiten bestätigen. Selbst bei guter oder sehr guter Passung, werden Kontraste bleiben. Da diese Kontraste bei der Vertiefung des Kennenlernens stärker in den Fokus treten, werden sie bemerkt und lösen Irritationen aus.
Warum nehmen mit weiter wachsender Vertrautheit die Irritationen ab?
Gelingt es den Beteiligten, die Irritationen zu klären und die Turbulenzen zu beruhigen, beginnen ihre Ansichten und Lebensweisen sich miteinander zu verbinden, zu integrieren oder mindestens miteinander in eine harmonische Koexistenz zu gelangen:
- Eigene Auffassungen und Gewohnheiten werden reflektiert und die (werdenden) Beziehungspartner:innen bewegten sich aufeinander zu.
- Zunächst störende Gewohnheiten von (werdenden) Partner:innen werden durch Gewöhnung und aktive Akzeptanz nicht mehr oder weniger als störend erlebt.
- Ein neues gemeinsamer Lebensstil entsteht, der sich aus Besonderheiten und Gewohnheiten der beteiligten Personen zusammensetzt.
- Aspekte, die dezidiert von einer Person abgelehnt werden, aber für die andere Person wichtig sind, werden im Sinne von Freiräumen und Unabhängigkeit wechselseitig akzeptiert und zugelassen, solange eine eigene Beteiligung daran nicht gefordert wird.
Dieser Prozess der wechselseitigen Einstellung aufeinander wird durch Vertrautheit gefördert:
- Die wachsende Vertrautheit ermöglicht es, die andere Person, die eigene Person und die zwischen ihnen entstehende Beziehung besser einzuschätzen. So wächst die Beziehungssicherheit und Turbulenzen nehmen ab.
Was lässt sich für die Beziehungsentstehung schließen?
Es ist völlig normal, dass Irritationen und Turbulenzen in der ersten Phase des Kennenlernens auftreten.
Auftretende Turbulenzen in der Phase der Beziehungsentstehung sind kein prognostisch ungünstiges Zeichen und sie sollten nicht zum Anlass genommen werde, eine Beziehungsentstehung vorzeitig abzubrechen.
Verwechseln Sie solche zu erwartenden Irritationen und Turbulenzen nicht mit Signalen für das Entstehen einer toxischen Beziehung, die sie beenden sollten.
Nehmen Sie daher auftretende Turbulenzen zum Anlass von Selbstreflexion und gemeinsamer Beziehungsklärung:
- Gelingt es Ihnen, sich wechselseitig auszutauschen, die Bedürfnisbasis einander verständlich zu machen, Merkmale eines neuen oder ergänzten Lebensstils herauszuarbeiten oder auch zu erkennen, wo Gemeinsamkeit und wo Freiräume sein können und sollen, befindet sich ihre Beziehungsentstehung auf gutem Weg.
- Erst wenn alle Versuche scheitern, die Turbulenzen unverändert fortbestehen oder sich verschärfen und eine Lösung nur durch die komplette Unterordnung einer Person möglich wäre, sollten Sie dies als toxisches Warnsignal erkennen und die notwendigen Abgrenzungs-Konsequenzen ziehen.
Wie umgehen mit Irritationen?
Der Rat lautet, die Irritationen, nicht stehen zu lassen, sondern sie direkt miteinander zu besprechen und zwar von einer offenen, nicht-wertenden und verstehen wollenden Basis aus.
Genau hiermit haben sich bereits zahlreiche Blog-Artikel beschäftigt, sodass ich die wichtigsten Aspekte einfach hier nur noch kursorisch mit Link zu dem entsprechenden Artikel aufzähle:
Radikale Ehrlichkeit hilft, einander zu verstehen. Angstfreie und nicht-strafende Kommunikation ist dafür eine Voraussetzung. Zeigen sich tatsächlich unvereinbare und nicht lösbare Diskrepanzen, kann das Abstand-Nehmen von einer Beziehungsentstehung der richtige Weg sein. Besser jetzt als später, wenn bereits ein hohes emotionales Investment in die Beziehung vorliegt. Sehr oft werden aber Integrations- und Akzeptanzmöglichkeiten erkennbar werden, die sowohl eine Vertiefung der Beziehung als auch eine eigene Persönlichkeitsentwicklung möglich machen.
Erkennen Sie das Gemeinsame in der Unterschiedlichkeit, sodass in der Tiefenstruktur Passungen sichtbar werden, die an der Oberfläche noch nicht erkennbar sind. Eben dies tun erfolgreiche multikulturelle Paare – lernen Sie von diesen!
Arbeiten Sie gemeinsam heraus, welche Dinge Sie zusammen unternehmen wollen und wo Ihnen Freiräume und Unabhängigkeit wichtig sind, damit es gar nicht erst soweit kommt, dass Nähe als zu nah erlebt wird.
Vergessen Sie nicht, dass Ignorieren oft schmerzlicher ist als Abweisung. Sprechen Sie Dinge direkt an, auch wenn es manchmal wehtun mag. Scheuen Sie sich nicht davor, in einen Konflikt zu gehen, wenn dies notwendig ist, weil eine Lösung ohne direkten Konflikt nicht entsteht.
Bei aller Klärung von Irritationen, achten Sie darauf, neue, interessante, anregende, belebende, abenteuerliche und sinnerfüllte Aktivitäten miteinander zu unternehmen oder entsprechende Ziele miteinander zu finden. So kann negatives Erleben ausgeglichen werden und die Priorität geht nicht in kleineren Ärgernissen unter.
Übrigens werden durch unseren Matching-Algorithmus die Risiken für tatsächlich destruktive und unlösbare Irritationen und Turbulenzen sowie toxische Beziehungs-Entwicklungen gesenkt. Denn bei der Vorschlagserbringung sind tiefgreifende Unterschiede in den Werthaltungen Ausschlusskriterien für die Erbringung des Vorschlages.
Aber während hierdurch das mögliche Ausmaß und die potentielle Destruktivität von Turbulenzen sicherlich bedeutsam gemindert werden kann, bedeutet dies nicht, dass in der Anfangsphase der Beziehungsentstehung nun keinerlei klärungsbedürftige Irritationen und Turbulenzen mehr auftreten würden.
Resümee
- Beziehungen können bereits ganz am Anfang turbulente Phasen mit Irritationen und Verunsicherung durchlaufen. Wenn die Vertrautheit noch sehr gering ist, können solche Turbulenzen sogar mit wachsender Vertrautheit zunächst zunehmen, bevor sie schließlich mit weiterhin wachsender Vertrautheit abnehmen.
- Irritationen und Turbulenzen in der Anfangsphase sollten nicht mit einer toxischen Beziehungsentwicklung verwechselt werden.
- Die Überwindung der Anfangs-Turbulenzen gelingt am besten mit radikaler Ehrlichkeit, der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten in der Unterschiedlichkeit, der Klärung der Balance von Zusammensein und Freiräumen, dem direkten Ansprechen von Konfliktthemen, sowie der kompensatorischen Fokussierung auf interessante und anregende gemeinsame Aktivitäten und Ziele.
- Ein Stück weit reduzieren wir bei Gleichklang durch unseren Matching-Algorithmus das Ausmaß von wahrscheinlichen Turbulenzen und insbesondere das Risiko toxischer Entwicklungen. Denn tiefgreifende Unterschiede in den Werthaltungen und im Lebenswandel führen zum Ausschluss von Vorschlägen.
- Es werden aber in der Anfangsphase der Beziehungsentstehung vermutlich gewisse Irritationen und Turbulenzen dennoch auftreten, zu deren Klärung und Bewältigung beide Seiten Beiträge leisten können, wenn eine tragfähige Beziehung entstehen soll.
In meinem kommenden Artikel am nächsten Sonntag werde ich mich übrigens noch einmal dem Matching-Algorithmus bei Gleichklang zuwenden.
Der Artikel wird aufzeigen, wie wir mithilfe des Matching-Algorithmus versuchen, positives Verstehen zu fördern und destruktive Begegnungen zu vermeiden, wobei der Artikel aber auch einige häufige Missverständnisse über den Matching-Algorithmus ausräumen möchte.
Übrigens läuft nach wie vor die Umfrage zu toxischen Beziehungen, mit deren Hilfe wir einen Selbsttest für eigene Beziehungen entwickeln werden. Die Umfrage freut sich über weitere Teilnehmende – wir werden im Blog über die Ergebnisse berichten: Hier zur Umfrage!