Dating und Identität
- Ist Online-Dating nur ein technologisches Mittel zum Zweck, welches nicht in unsere Sicht von uns selbst und unsere Identität eingreift?
- Oder kann Online-Dating Ausdruck eines Prozesses der Identitäts-Veränderung und Selbstfindung sein?
Gerade habe ich zu dieser Thematik eine beeindruckende Promotion von Nikki M. Lloyd gelesen, die hier in Gänze nachgelesen werden kann.
Erfolg beim Online-Dating
In mehreren Interviews wurden Paare, die sich Online gefunden hatten, getrennt und zusammen interviewt. Im Anschluss erfolgte eine qualitativ-thematische Analyse der Schilderungen der Befragten.
Die Untersuchung fokussierte sich also auf solche Personen, die Online Beziehungspartner*innen gefunden hatten. In den Rohdaten werden dabei interessanterweise – ähnlich wie wir es bei Gleichklang kennen – ganz unterschiedliche zeitliche Verläufe erkennbar:
- vom sehr schnellem Erfolg nach einem Monat bis zur vieljährigen Online-Suche.
Unklar ist, inwiefern sich die Ergebnisse auch auf Partnersuchende, die noch keinen Beziehungspartner*in gefunden haben, übertragen lassen. Allerdings halte ich dies für wahrscheinlich:
- die Befragten berichteten über Prozesse der Veränderung ihrer Identität, die bereits vor dem Kennenlernen eines Beziehungspartners*in begannen.
- mit dem Kennenlernen eines Beziehungspartners*in fand diese Identitätsentwicklung quasi ihren validierenden (vorläufigen) Abschluss.
- dies konvergiert mit immer mal wieder bei uns eintreffenden spontanen Rückmeldungen weiterhin suchender Mitglieder, die über positive Veränderungsprozesse berichten.
- gelegentlich wird uns berichtet, dass es aufgrund dieser Veränderungsprozesse gelang, außerhalb von Gleichklang einen Beziehungspartner*in zu finden.
Ich glaube vor diesem Hintergrund also, dass nicht nur die bereits “erfolgreichen”, sondern alle Partnersuchenden ihre Partnersuche zum Ausdruck einer Identitäts-Entwicklung machen können.
Dies führt gleichzeitig zu einer Erweiterung der Erfolgsdefinition von Online-Dating um die Klärung der eigenen Identität und eine höhere Konsistenz mit dem Selbst-Ideal.
Aus diesen Identitätsklärungs- und -entwicklungsprozessen mögen sich wiederum für die Partnersuche verschiedene Konsequenzen ergeben:
- konkrete Beziehungsfindung auf der Plattform
- geförderte Beziehungsfindung anderswo
- Bekenntnis zum eigenen Single-Leben …
Bisher beschränken sich unsere eigenen Erfolgsauswertungen auf Vermittlungsraten und die Dauerhaftigkeit von “Gleichklang-Beziehungen”.
Künftig werden wir uns um eine entsprechend erweiterte Erfolgsauswertung bemühen.
Online-Dating und Identität
Ich fasse in eigenen Worten und auf das Wesentliche verkürzt zusammen, zu welchen Beobachtungen und Schlussfolgerungen Nikki M. Lloyd in ihrer Promotion gelangt:
Erstellung des eigenen Profils
Die initiale Erstellung des eigenen Profils beim Online-Dating stellt Partnersuchende vor die Aufgabe, Informationen über sich selbst zur Verfügung zu stellen.
Diese Informationen bestehen aus dem, was bewusst an Informationen in Wort und Bild vermittelt werden soll, aber auch aus Informationen, die bewusst oder unbewusst weggelassen werden oder zweideutig sind.
Ratschläge anderer (z. B. Freunde) oder auch Anregungen aus Profilen anderer Suchender mögen die eigene Profildarstellung beeinflussen.
Mit dem Profil wird von den Betreffenden zweierlei angestrebt:
- potentielle Beziehungspartner*innen solle interessiert sein.
- ein zutreffendes Bild der eigenen Person soll gegeben werden.
Letzteres ist wichtig, weil sich das Online-Dating nicht allein in einer virtuellen Welt abspielt, sondern reale Begegnungen angestrebt werden.
Starke Abweichungen zwischen Selbstschilderung und Realität wären daher problematisch.
Oftmals (im Regelfall) wird das Profil nicht nur einmal erstellt, sondern es unterliegt Veränderungsprozesse.
Dies sind keine zufälligen Fluktuationen, sondern sie unterliegen Reflexionsprozessen, die sich an eigenen Überlegungen, Modellen (Freunde, andere Profile etc.) und erhaltenen Rückmeldungen während des Dating-Prozesses orientieren.
Es kommt so im Verlauf zu einer Herausarbeitung unterschiedlicher Selbstaspekte im Profil (Realselbst, Ideal-Selbst), was Ausdruck und Motor einer Identitäts-Entwicklung sein kann.
Ausgangssituation und Auflösung
Viele Partnersuchende befinden sich zu Anfang ihres Online-Datings in einer besonderen Situation, die mit einer Verunsicherung in ihrem Selbstbild einhergehen kann:
Ursachen hierfür mögen externe Ereignisse, wie Trennungen, Verlust eines Beziehungspartners durch Tod, Arbeitsplatzverlust, Erkrankung oder Genesung, Umzug, Berentung oder andere Ereignisse sein. Die Zunahme der Online-Partnersuche durch die Corona-Pandemie ist ein aktuelles Beispiel hierfür.
Es können aber auch interne Ursachen sein (z.B. Bewusstwerdung der Dauer der Partnerlosigkeit, Wahrnehmung des eigenen Alterungsprozesses, Nachdenken über die Zukunft etc.), die zu einer Verunsicherung im eigenen Identitätserleben (disembodied self) führen.
Aus dieser Situation heraus entsteht eine Offenheit für Veränderung. Diese ist ihrerseits wiederum oft mit Ambivalenz und Rollenunsicherheit verbunden sein. Hierauf wird mit Prozessen der Identitätsklärung reagiert.
Auf der Basis von Erfahrungen und erhaltenen Rückmeldungen beim Online-Dating wird ein Dating-Selbst erstellt.
Die Auflösung geschieht durch die Übertragung dieses Dating-Selbst in die nicht-virtuelle Welt oder im besten Fall in eine neu entstehende Beziehung.
Das virtuelle Selbst wird so zur non-virtuellen Wirklichkeit (re-embodied self).
Richtung der Identitätsentwicklung
Die folgenden Überlegungen orientieren sich nur noch kursorisch an der Promotion von Niki M. Lloyd.
Hin zum Ideal-Selbst im Profil
Hier wird die Selbstvorstellung nicht auf das beschränkt, was (bereits) ist (umgesetztes Selbst), sondern Aspekte dessen, was jemand werden möchte (Ideal-Selbst), werden mit in dies Selbstvorstellung integriert. Da auch das Ideal-Selbst ein Teil des eigenen Selbst ist, handelt es sich dennoch um eine selbstkongruente Vorstellung, die daher durchaus zum Kennenlernen von passenden Beziehungspartner*innen führen kann.
Was aber unterscheidet diesen Einfluss des Ideal-Selbst im Profil von Unehrlichkeit oder gar Lüge?
Entscheidend sind die drei Aspekte der Umsetzbarkeit, des Umsetzungwillens und der begonnenen Umsetzung:
- je weniger das Beschriebene umsetzbar ist, je schwächer der Umsetzungswille und je weniger bereits mit der Umsetzung begonnen wurde, desto mehr handelt es sich um Verzerrung, Täuschung oder gar Lüge.
- je klarer das Beschriebene umsetzbar ist, je höher der Umsetzungswille und je stärker bereits mit der Umsetzung begonnen wurde, desto mehr handelt es sich bei diesem Dating-Selbst um das bereits beginnende neue Selbst, was in einer künftigen Beziehung (oder auch ohne diese) gelebt werden wird.
Hin zum bereits umgesetzten Selbst im Profil
Ebenso wie eine Bewegung hin zum Ideal-Selbst mag ein Dating-Profil im Verlauf auch eine Bewegung zum bereits umgesetzten Selbst zeigen. So schilderte eine von Nikki M. Lloyd Befragte, dass sie am Anfang ein hochgestyltes Bild eines Fotografen eingestellt habe.
Im Verlauf des Datings und der erhaltenen Rückmeldungen habe sie dann aber zu einem ganz einfachen, natürlichen Bild am Schreibtisch gewechselt, mit welchem sie im übrigens auch ihren neuen Partner kennengelernt habe.
In diesem Fall lag anfangs strenggenommen durchaus eine gewisse “Unehrlichkeit” vor, wobei diese dem Wunsch entsprach, sich auf der Basis eines tatsächlichen Bildes der eigenen Person besonders attraktiv darzustellen.
Allerdings entsprach dieses gezeigte Wunsch-Bild der eigenen Äußerlichkeit weder der typischerweise gezeigten Äußerlichkeit noch lag ein Wunsch oder eine Intention vor, sich künftig typischerweise entsprechend zu stylen.
Damit entsprach das Profil keiner echten Vorstellung des eigenen Äußeren, sondern einer de facto Fiktion, auch wenn sie von einem realen Foto entstammte.
Im Laufe des Dating-Prozess gelang es der Betreffenden, ihre äußerlichkeitsbezogene Identität zu klären und sich selbst (auch in Bezug auf die vorstellte Betrachtung durch andere) mit ihrem bereits umgesetzten Äußeren identifizieren und aussöhnen zu können.
Misslungene Profil-Vorstellungen
Wo sind die Grenzen der Auslotung von Selbst-Aspekten – wo beginnt der Übergang zur Täuschung?
Ich möchte diese Grenzen durch fünf misslungene Profil-Beispiele verdeutlichen – von allen fünf erhielten wir Kenntnis, weil sich andere Mitglieder beschwerten:
der Kampfsportler
- Ein weibliches Mitglied berichtete uns ihre Enttäuschung über ihre Begegnung mit einem Gleichklang-Mitglied, der in seinem Profil Kampfsport angegeben hatte. Beim Spaziergang im Wald geriet nun dieser Kampfsportler, dem sein Hobby auch so offenbar nicht anzusehen war, mächtig aus der Puste. Bei der Betreffenden hatte aber gerade der Eintrag Kampfsportler ihr Interesse erzeugt, weil sie sich mit einem Partner entsprechend anspruchsvoll körperlich betätigen wollte. Dies wiederum lag nicht in der Intention des männlichen Mitgliedes, welcher sinngemäß angab, Kampfsportler habe er angekreuzt, weil es gut klinge.
vegan: die ausbleibende Transition
- Ein männliches veganes Mitglied berichtete uns, dass er großen Wert darauflege, mit einer Partnerin vegan zu leben. Einen anderen Lebenswandel wolle er nicht. Dabei sei es allerdings für ihn nicht Voraussetzung, dass eine Partnerin bereits jetzt vegan lebe. Es sei ebenso vorstellbar, eine Partnerin kennenzulernen, die gerne vegan werden wolle. In der Tat bieten wir bei Gleichklang auch die entsprechende Selbst-Charakterisierung an “möchte gerne vegan werden”. Die Erfahrungen mit mehreren Frauen, die genau dies angekreuzt hätten, seien aber für unser Mitglied jedoch ernüchternd gewesen. Die entsprechenden Mitglieder dachten nämlich offenbar gar nicht daran, aus ihrer Ankreuzung Wirklichkeit werden zu lassen. Die Einstellung habe man vorgenommen, um mehr Vorschläge zu erhalten.
Handicap: die fehlende Akzeptanz
- Mitglieder haben uns bereits mehrfach geschildert, dass andere Mitglieder eine Akzeptanz für Handicaps angeben und dies teilweise auch in der ersten Online-Kommunikation zum Ausdruck bringen. Plötzlich aber verschwänden die entsprechenden Personen, manchmal direkt vor einem vereinbarten Treffen oder teilten lapidar mit, dass das doch für sie eine Überforderung wäre. Die betreffenden Mitglieder reagieren hierauf mit Verunsicherung für ihre weitere Partnersuchen.
Handicap: die nicht vorhandene Mobilität
- Ein weibliches Mitglied schilderte uns, für eine Partnerschaft mit einem Menschen mit Handicap offen zu sein. Dies habe sie auch in ihrem Profil zum Ausdruck gebracht und ein erstes Date mit einem betreffenden männlichen Mitglied vereinbart, mit dem sie auch bereits Fotos ausgetauscht habe. Das Mitglied habe ihr berichtet, er verwende teilweise einen Rollstuhl, sei aber mobilitätsbezogen nur gering eingeschränkt. Beim ersten Treffen habe sich dies dann gänzlich anders dargestellt. Der Betreffende habe sehr starke Mobilitätseinschränkungen gehabt und sei pflegebedürftig gewesen. Schockiert gewesen sei sie dabei vorwiegend über die anderslautende vorherige Schilderung und habe deshalb den Kontakt abgebrochen.
der nicht geklärte Beziehungsstatus
- Männliche oder weibliche Mitglieder gaben an, getrennt und Single zu sein. Erst nach vertiefter Online-Kommunikation oder sogar erst nach einem oder gar mehreren Begegnungen habe sich herausgestellt, dass die Trennung weder räumlich noch faktisch vollzogen gewesen sei. Die Betreffenden lebten mit Partner*innen zusammen, mit denen sie auch weiterhin ein mehr oder weniger intensives Sozialleben oder Sexualleben teilten.
Lernen aus Erfahrung
Alle fünf Beispiele sind misslungen und haben Anlass zu Verärgerung gegeben und sich gleichzeitig als zwecklos erwiesen:
- das reale Selbst wurde in der nicht-virtuellen Welt als vom virtuell vorgestellten Selbst unvereinbar verschieden wahrgenommen.
- ein Prozess der Integration der Profil-Schilderungen in ein neues Selbst unterblieb oder musste wegen mangelnder Umsetzbarkeit unterbleiben.
Trotzdem möchte ich diese Beispiele nicht ausschließlich als Negativ-Beispiele verstanden wissen. Aufgrund der erhaltenen Rückmeldungen mögen die Betreffenden Änderungen vornehmen in Ihrer Profilvorstellung oder – soweit möglich – in ihrem Real-Selbst:
- der “Kampfsportler” mag im Profil schreiben, dass er gerade mit Kampfsport begonnen habe und dann tatsächlich einen Kursus besuchen oder er mag sein Hobby “Kampfsport” durch das Hobby “Spaziergehen” ersetzen, dem er dann auch tatsächlich nachgehen kann.
- die “vegan Interessierten” mögen sich über die vegane Lebensweise weiter informieren, ihre Intention festigen oder gar den Einstieg in die vegane Lebenswiese vornehmen. Tun sie dies nicht, können auch sie ihr Profil ändern.
- diejenigen, die “Akzeptanz für Handicaps” angeben, mögen noch einmal reflektieren, wie eine solche Akzeptanz möglich ist und gegebenenfalls offener ihre Ambivalenz schildern und sich gerade dadurch auf ein Kennenlernen einlassen können.
- der von “Mobilitätseinschränkungen Betroffene” mag überlegen, wie er womöglich doch vorhandene Mobilität besser zum Ausdruck bringen oder umsetzen kann oder wie er die Mobilitätseinschränkungen bei entsprechenden Nachfragen realitätsgerecht schildern kann, ohne dadurch seine Gesamt-Person überlagern zu lassen.
- Personen mit “ungeklärtem Beziehungsstatus” können dies zum Anlass nehmen, ihre Beziehung zu klären, Entscheidungen zu treffen oder aber beispielsweise zur Freundschaftssuche zu wechseln und dort realitätsgerecht über ihren Beziehungsstatus Auskunft geben.
Gelungene Identitäts-Entwicklungen
Die Identitäts-Entwicklung gelingt dort, wo zwischen umgesetzten Selbstaspekten und Intentionen unterschieden wird, Intentionen ernsthaft sind, sie als Intentionen formuliert werden oder mit ihrer Umsetzung begonnen wird und sie dann berechtigt als bereits umgesetzte Selbst-Aspekte beschrieben werden.
Wer ernsthaft die Intention hat, vegetarisch oder vegan zu werden, kann dadurch sowohl seine Partnersuche das reale Selbst wurde in der nicht-virtuellen Welt als vom virtuell vorgestellten Selbst unvereinbar verschieden wahrgenommen fördern, als auch die eigene Identitäts-Entwicklung voranbringen, innere Dissonanzen überwinden und so mehr Zufriedenheit mit dem eigenen Handeln im sozial-ökologischem und empathisch-tierschutzbezogenen Kontext erreichen. Dies wiederum wird die Erschließung eines veränderten sozialen Netzwerkes ermöglichen mit mehr Gemeinsamkeit.
Besonders starke Entwicklungseffekte werden erreicht, wenn Intentionen nicht nur sicher sind, sondern bereits vor der Beziehungsfindung mit der Umsetzung begonnen wird.
So brauchen auch im Profil nicht mehr nur Intentionen geschildert werden, sondern es kann bereits auf den soeben begonnenen Lebenswandel als umgesetztes Selbst verwiesen werden.
Dies betrifft alle Bereiche, in denen Veränderungen individuell gewollt sind:
- sportliche Betätigung
- musische oder künstlerische Betätigung
- ökologische Lebensweise
- gesunder Lebenswandel
- Rauchen und anderer Suchtmittelkonsum
Die Erstellung und Pflege des Dating-Profils sollte und kann also Anlass geben, in allen Bereichen, darüber nachzudenken, ob Veränderungen erwünscht sind und diese dann in die Wege zu leiten.
Dies ermöglicht es, ein dem eigenen Wunsch und den vermuteten Präferenzen derjenigen stärker entsprechendes Dating-Profil zu erstellen, welches eben nicht auf Täuschung, sondern auf einem Prozess der Identitäts-Entwicklung beruht.
Veränderungen der Identität spiegeln sich dabei im Verlauf in Veränderungen im Profil wider.
Zu dieser Thematik gehört auch die Klärung des eigenen Beziehung-Status und der eigenen Beziehungswünsche und -modelle:
- ist der Beziehungsstatus ungeklärt, können Sie in sich gehen und gemeinsam mit den betreffenden Personen die Zukunft oder Beendigung der (noch gegebenen) Beziehung besprechen und angehen. Vorher ist eine Aussetzung der Partnersuche, ein Wechsel zur Freundschaftssuche oder aber alternativ eine klare und ehrliche Schilderung im Profil der richtige Weg. Dabei mögen auch die erhaltenen Rückmeldungen und Erfahrungen im Verlauf entscheiden, welchen Weg Sie letztlich gehen.
- vielfach geben auch solche Menschen an, dass sie unbedingt eine sexuell treue Beziehung suchen, die lebenslang in Beziehungen untreu gewesen sind und dies wohl auch wieder sein werden. Eine positive Identitäts-Entwicklung könnte hier sein, den eigenen Unwillen oder das Unvermögen zur monogamen Beziehungs-Gestaltung zu erkennen, anzunehmen und sich für die Suche nach einer offenen Beziehung zu entscheiden. So mag gleichzeitig höhere Konsistenz mit der eigenen Person entstehen, Spannungen und Schuldgefühle werden abgebaut und eine bessere Voraussetzung für eine Partnerschaft in Ehrlichkeit kann geschaffen werden.
Sehr oft raten wir übrigens in der Mitglieder-Betreuung Raucher*innen dazu, die Partnersuche zum Anlass für Veränderung zu nehmen:
- eine große Mehrheit unserer Mitglieder schließt Rauchen aus.
- gerade gesundheitsbewusste Menschen schließen Rauchen aus und können so Raucher*innen nicht vorgeschlagen werden.
Die Beendigung des Rauchens führt so zu vier Vorteilen:
- die eigene körperliche Gesundheit wird verbessert.
- ein Suchtverhalten wird überwunden.
- Selbstmanagement wird einübt und kann auf andere Bereiche übertragen werden.
- die Partnerfindung kann nun auch Menschen mit Gesundheitsbewusstsein einschließen.
Partnerfindung ist ein motivierendes Lebensziel, was bereits vor seiner Erreichung Anreiz sein kann, sich zu verändern. Entsprechend kann Partnersuche der Anlass sein, die eigenen Identität zu klären und zu verändern.
Dies betrifft übrigens auch “rein psychische” Merkmale, wie Selbstsicherheit, Bindungsängste oder psychische Beeinträchtigungen, beispielsweise Depressionen:
- Selbstsicherheit mag durch die Übung des schriftlichen Austausches, den Übergang zu Telefonaten oder Video-Chats und schließlich in realen Begegnungen geübt und so etabliert werden. Auf diese Weise mag ebenso gelernt werden, zu eigenen Besonderheiten zu stehen, wenn sie nicht abgelegt werden sollen oder können.
- Bindungsängste können angesprochen werden und im Rahmen von Begegnung und Beziehungsaufbau kann gemeinsam ein sicheres Umfeld geschaffen werden, um Vertrauen und Bindung bei ausreichenden Freiräumen zu ermöglichen.
- Online-Dating mag gleichzeitig eine weitere Motivation sein, um an eigenen Problemen zu arbeiten. So mag – wenn erforderlich – die Bereitschaft steigen, sich professionelle Hilfe zu suchen oder sich auf empfohlene Behandlungen einzulassen, da dadurch auch die Aussichten für eine positive künftige Beziehungsentwicklung steigen.
Ich möchte damit aber nicht zum Ausdruck bringen, dass Partnersuche zu einem überzogenen Selbst-Optimierungsdruck führen sollte:
- das Entscheidende bei der Identitätsentwicklung ist, eine gute Balance zu finden zwischen der Akzeptanz und Validierung bestehender und umgesetzter Selbst-Aspekte (z.B. Stehen zum eigenen Aussehen) und einem Ideal-Selbst, welches nicht aus einem unerreichbarem Phantasma, sondern umsetzbaren Veränderungswünschen bestehen kann.
Resümee
Schließen möchte ich den Artikel mit einem (frei übersetzen) Abschlusszitat der Arbeit von Nikki M. Lloyd:
- “Was ist die Beziehung zwischen dem Online vermittelten Aufbau einer Identität und dem Offline-Erfolg bei Online-Partnersuchenden? … Die erste Antwort bezieht sich auf die Fähigkeit, zu einem Einklang zu gelangen zwischen dem dargestellten und dem wahrgenommenen Selbst. Die zweite Antwort liegt darin, sich selbst in einer Weise darzustellen, die realistisch und erreichbar ist. Die dritte Antwort besteht darin, das Vertrauen in sich selbst zu haben, erfolgreich zu sein.”
In diesem Artikel habe ich mich mit den beiden ersten Antworten beschäftigt, aber auch die dritte Antwort möchte ich nicht unkommentiert lassen:
- denn wenn uns die Zuversicht fehlt, zum Erfolg zu gelangen, werden weniger Schritte zur Veränderung getan, verbleiben wir in unseren alten Gewohnheiten, auch wenn sie uns nicht glücklich machen, bleiben wir lieber stehen, als Barrieren zu überwinden, und geben zu schnell auf, wenn erstrebte Wünsche möglicherweise nicht sofort, sondern erst zu einem ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft Wirklichkeit werden die Beziehung.
Arbeit an der eigenen Identität kann daher auch darin bestehen, das eigene Selbstvertrauen, eine Beziehung finden und leben zu können, aufzubauen und aufrechtzuerhalten, auch wenn die Belohnung in Form der Partnerfindung nicht sofort, sondern erst später erfolgt.
Dabei wird ein optimistisches und zielbezogenes Dranbleiben an der Partnersuche umso einfacher fallen, desto besser es gelingt, die Weiter-Entwicklung der eigenen Identität bereits vor der Partnerfindung als lohnend und belohnend zu erleben.