Kameradschaftlich oder leidenschaftlich: Was trägt?
Heute setze ich mich mit zwei Grundtypen der Liebe auseinander:
- der kameradschaftlichen und der leidenschaftlichen Liebe.
Da sich aber tatsächlich beide auf partnerschaftliche Beziehungen beziehen, bezeichne ich sie für ein besseres Begriffsverständnis im Folgenden als kameradschaftlich-romantische Liebe und leidenschaftlich-romantische Liebe.
Ausgangspunkt meines Artikels sind Studien von Victor Karandashev und Stuart Clapp zur multidimensionalen Struktur der Liebe.
Die Autoren identifizierten in ihren Untersuchungen 33 erfassbare Dimensionen der Liebe, woraus sich grundsätzlich eine riesenhaft-enorme Anzahl an möglichen individuellen Konfigurationen von Liebeserleben und partnerschaftlichen Beziehzungen ergeben kann.
Gleichzeitig konnten die Autoren darüberhinausgehend aber aufzeigen, dass sich zwischen diesen 33 Primärdimensionen systematische Zusammenhänge zeigen und dass sich so unter Liebenden die beiden Grundtypen der kameradschaftlich-romantischen und der leidenschaftlich-romantischen Liebe identifizieren lassen.
Mein heutiges Thema wurde auch motiviert durch Zuschriften von Mitgliedern und Beratungs-Anfragen, die immer wieder deutlich machen, dass es nicht immer leichtfällt, zu erkennen, ob Liebe besteht oder sich entwickeln kann.
Zweifel treten auf, Widersprüche werden beschrieben und erwartete Gefühle werden vermisst. Hieraus ergibt sich Verunsicherung, zu deren Auflösung dieser Artikel einen Beitrag leisten soll.
Zwei dieser Zuschriften möchte ich auszugsweise zitieren, weil vermutlich so manche Leser: innen sich in ihnen wiedererkennen und so den Artikel auch vor diesem Hintergrund mit einem entsprechenden Fokus lesen können:
- ich bin mir unsicher wie lange ich den Kontakt mit potenziellen Partnern aufrechterhalten soll: Ich bin im Zwiespalt zwischen lange dran bleiben, um auf keinen Fall eine irgendwann sich einstellende Verliebtheit zu verpassen, und dem Anderen keine falschen Hoffnungen machen/zu früh aufzugeben.
- es war ein schönes Erlebnis, vor allem die Nähe, die menschliche Wärme und Geborgenheit hat uns beiden gutgetan. … Ich bin aber unabhängig von diesem positiven Erlebnis immer wieder sehr unsicher, ob wir überhaupt zusammenpassen. …, dass ich mir die Frage nicht beantworten kann, ob wir aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen überhaupt eine Chance haben.
Im Folgenden werde ich darauf eingehen, welche Dimensionen der Liebe es gibt, wie sich diese kombinieren, woraus sich kameradschaftlich-romantische und leidenschaftlich-romantische Liebe ergeben und was wir selbst tun können, dass die Liebe sich so entwickelt, dass wir glücklich werden.
Auf beide auszugsweise zitierten Zuschriften komme ich dann ganz am Ende des Artikels noch einmal zurück.
33 Dimensionen der Liebe nach Karandashev & Clapp
Ich belasse es hier zunächst bei einer kurzen Aufzählung und Erläuterung, um einen Überblick zu geben. Der Artikel ist aber ebenfalls verständlich, wenn Sie diesen Abschnitt nur kurz überlfiegen oder auslassen.
Sicherlich wird Ihnen bei Durchlesung der Liste deutlich werden, dass sich die Dimensionen im Grad der emotionalen Leidenschaft als ergreifender Gemütszustand, aber auch im Grad kameradschaftlicher Bezogenheit unterscheiden.
Ebenso deutlich wird intuitiv, dass so manche Dimension auch mit Gefahren verbunden sein kann und dass gerade die leidenschaftlichen Dimensionen nicht nur zu großem Glück, sondern auch zu großem Leid führen mögen.
Trotzdem wäre es psychologisch verfehlt, einfach nur zwischen guten/hilfreichen und schlechten/schädigenden Dimensionen zu unterscheiden, weil alle Dimensionen, auch die riskanten, Lernerfahrungen ermöglichen und durchaus die Basis für eine auch dauerhafte Liebesbeziehung schaffen können.
Hierauf gehe ich im nachfolgenden Abschnitt näher ein, bevor ich zu der grundlegenden typologischen Zweiteilung der Liebe in die leidenschaftlich-romantische und die kameradschaftlich-romantische Charakteristik gelange.
- Akzeptanz: Akzeptanz und Respekt gegenüber der Person und ihrem Lebensstil. Gute Integration der wechselseitigen Persönlichkeiten und Lebensstile in die Beziehung. Annehmender und akzeptierender Umgang mit Unterschieden, Toleranz auch gegenüber Interessen, die nicht den eigenen Interessen entsprechen.
- Begehren: Ein Gefühl des intensiven Wunsches, einem Partner: in körperlich näher zu sein. Sexuelles Begehren, Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Berührung, Küssen und Sex, sehnsuchtsvolle Fantasien, kann Körperkontakt nicht widerstehen, Gefahren würden auf sich genommen, um mit Person zusammen zu sein.
- Besessenheit: Intensive Anziehung zu einem Partner: in, die einen ständig beschäftigt und beherrscht. Erlebt sich selbst als besessen und fixiert von Person, ständige Fantasien über Person, Gefühl der Überwältigung durch Person, an nichts anderes mehr denken können.
- Besitz: Der Wunsch, einen Partner: in zu besitzen. Gefühl, die Person gehöre einem, verzehrende Eifersucht, wenn Person mit jemand anderem zusammen ist, unerträglich, wenn jemand anderes Person berührt, will nicht daran denken, dass andere die Person lieben könnten, Verlassenwerden schlimmer als sterben, Hass, Ärger und Wut auf alle, die Person wegnehmen könnten.
- Bindung: Einem romantischen Partner: in gegenüber verpflichtet und hingebungsvoll sein. Entscheidung, zusammen bleiben zu wollen, das Leben zusammen verbringen zu wollen, auch wenn es hart ist, Versprechen einzuhalten, für die Person einzustehen, auch in schwierigen Zeiten.
- Bindungsangst: Gefühle von Nervosität und Befürchtungen, von einem romantischen Partner: in verlassen zu werden. Angst vor Verlassenwerden, Unvorstellbarkeit von Trennung (sterben wollen), erlebte immense Schmerzen bei vorgestelltem Verlassenwerden und Verlust.
- Bewunderung: Respektvolle Haltung gegenüber einem romantischen Beziehungspartner, die ihn/sie beeindruckend macht. Erlebte Faszination, Beeindruckung, Bewunderung der Person. Verzauberungserleben.
- Dankbarkeit für Beziehung und Wertschätzung: Dankbar für die Beziehung sein und einem romantischen Partner: in gegenüber Wertschätzung zeigen. Dankbar sein für die gemeinsame Zeit, froh darüber sein, zusammen zu sein, die Person und die Beziehung zu schätzen.
- Idealisierung der Person: Idealisierende Wahrnehmung der Person, die zu Verzerrung und Blindheit führen kann. Beziehungspartner wird als anderen überlegen, großartig, attraktiv eingeschätzt, egal, wie andere Person diese sehen. Selbst verrückte Ideen mögen als plausibel erscheinen. Es wird angenommen, jeder würde diese Person lieben.
- Einfühlungsvermögen: Der Wunsch und die Fähigkeit, die Gefühle der Person zu verstehen und zu teilen. Schmerz so fühlen, als ob es der eigene ist. Freude darüber, wenn Person glücklich ist. Wunsch, zu wissen, wie es der Person geht.
- Einzigartigkeit: Wahrnehmung der Person als einzigartig und besonders bemerkenswert gegenüber anderen. Jeder Moment mit der Person wird als einzigartig und bemerkenswert erlebt, keine andere Person wird gebraucht, Überzeugung, diese Person sie das einzige, was für die eigene Person benötigt werde, die Beziehung sei wichtiger als alle Beziehungen zu anderen Menschen.
- Gemeinsame Aktivitäten: Eine freundschaftliche Verbindung und gemeinsame Interessen mit dem romantischen Partner: in. Die Gesellschaft der Person genießen, sich wechselseitig zu begleiten, gemeinsame Interessen zu entwickeln und ihnen nachzugehen.
- Geteiltes Leben: Etwas Gemeinsames wahrzunehmen zwischen sich und Partner: in. Es geht weniger um konkrete Aktivitäten, sondern um das durchaus ekstatische Gefühl, verbunden zu sein und im Leben zusammen sein zu wollen.
- Glaube: Der Glaube an einen Partner: in. Zuversicht, dass Person ehrlich liebt, keine tiefgreifenden Zweifel an Person, Zuversicht, die Person ist der richtige Beziehungspartner.
- Hingabe: Tiefgreifende Hingabe an einen Partner: in. Aufopferungsbereite Liebe, große Anstrengungen für Person unternehmen. Bereit sein, alles zu geben, für Person zur Not sterben zu wollen.
- Hochgefühl: Ein Gefühl großer Freude in Verbindung mit Partner: in. Intensive Freude über Beziehung und Zusammensein, Euphorisches Erleben von körperlicher Nähe und Zärtlichkeit, Humor und Leichtigkeit.
- Intimität: Tiefe Gefühle von Verbundenheit und Vertrautheit gegenüber Partner: in. Keine Angst vor eigener Verletzlichkeit, Selbst-Offenlegung, Austausch aller privaten Informationen und Gefühle, Gefühl, man kenne sich auf tiefer Ebene.
- Interesse für Beziehungspartner: Interesse und Neugierde. Interessefokus auf Beziehungspartner, Neugierig und interessiert an gemeinsamer Zeit, Wunsch, über Beziehungspartner viel und auch Neues zu erfahren. Es geht hier nicht nur darum, etwas gemeinsam zu tun, sondern Interesse und Neugier (mehr erfahren) beziehen sich Person.
- Selbst-Verbesserung: Gefühl einer Verbesserung von eigenem Selbstwert und Zufriedenheit durch Person. Gefühl, die andere Person gebe Kraft, ermögliche ein sinnvolleres Leben, mache das Leben wertvoller, die Liebe zu dieser Person mache einen selbst einen besseren Menschen.
- Irrationalität: Denken und Handeln ohne Logik und Rationalität aufgrund der Beschäftigung mit Partner: in. Kein gesunder Menschenverstand mehr, wenn Person in Nähe. Sich auf nichts anderes mehr konzentrieren zu können. Unsinnige Entscheidungen treffen. Wahrnehmungen nicht realitätsgerecht.
- Kommunion: Teilen von Gedanken, Gefühlen, Besitztümern und Handlungen mit Partner: in, um sich zu vereinen. Der Wunsch, zusammen Lebenszeit zu verbringen, sich in einer Beziehung als neue Einheit zu erleben, ideelle und materielle Güter teilen. Es geht um einen symbiotischen, die Grenzen der einzelnen Personen erweiternden Bezug.
- Kompatibilität: mit Partner: in friedlich und ausgeglichen zusammen zu sein zu können. Zufriedenheit mit der Person, Wahrnehmung einer Passung zur eigenen Person, Person wird als geeignet erlebt.
- Reziprozität: Ein ausgeglichenes, gerechtes Geben und Nehmen für beidseitigen “Vorteil”. Die Beziehung wird als ausgeglichen, für beide Seiten vorteilhaft erlebt. Gleichwertigkeit, Gerechtigkeit und automatisch-natürliche Wechselseitigkeit prägen die Beziehung. Vergleichbarkeit an Gefühlen, Einsatz, Bindung.
- Schützen wollen: Etwas tun, um das Wohlbefinden der Person zu erhalten. Verantwortung und Sorge bei allen körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen übernehmen. Sich kümmern und sich jeder Form von seelisch oder körperlich schädigender Handlung enthalten. Für das Wohlbefinden eintreten und keinen Schaden wünschen oder zufügen.
- Sehnsucht: Starker Wunsch nach Nähe zu Partner: in. Wunsch nach enger Verbundenheit und Nähe. Überall hingehen zu wollen, wo Person ist. Vermissen, wenn Person abwesend. Alle Zeit gemeinsam haben wollen, die möglich ist.
- Sorge für das Wohlergehen: Interesse am Schutz der Gesundheit und des Wohlergehens der Person. Sich Sorgen machen um das körperliche und seelische Wohlergehen der Person, besorgt sein, wenn Wohlergehen der Person beeinträchtigt ist, aufgebracht sein, wenn Person von anderen angegriffen oder bedroht wird.
- Trost und Stärkung: Gefühl von Minderung körperlicher und seelischer Beschwerden durch Partner: in. Zusammensein mindert Ängste, körperliche Nähe stärkt das Wohlbefinden, in den Armen werden Sorgen vergessen. Die Beziehung mindert aktuelles oder befürchtetes Leid.
- Vergebung: Partner: in zu akzeptieren, trotz Fehlern. Hier gehört es, Schwächen annehmen zu können, keinen Groll zu hegen, auch echtes Unrecht zu verzeihen. Als Menschen sind wir nicht perfekt. Wir haben alle unsere Fehler und Schwächen und nicht immer im Leben haben wir das Vertrauen gerechtfertigt, was in uns gelegt wurde. Dies betrifft auch unsere partnerschaftlichen Beziehungen.
- Verlassen können: Das Gefühl, sich auf Partner: in verlassen zu können. Sich verlassen können, sich geschützt fühlen, sich verstanden fühlen. Die Überzeugung, mit der Person Glück finden zu können.
- Verantwortungs-Übernahme: Eine Verantwortung, die man für Partner: in übernimmt. Möchte Rat geben, Probleme lösen, Wünsche erfüllen und Person in allen Bereichen unterstützten. Möchte Beitrag leisten, dass Person glücklich wird.
- Vertrauen: Die Fähigkeit, sich Partner: in anzuvertrauen. Vertrauen in die Person haben, ihr glauben, was sie berichtet, sie um Hilfe bitten können, die eigenen Gefühle offen und authentisch ausdrücken zu können, sich dabei sicher zu fühlen. Vertrauen und Glauben liegen eng beieinander, sind aber nicht das gleiche. Bei der Dimension des Glaubens geht es um das Glauben an die Person im Allgemeinen. Bei der Dimension des Vertrauens geht es darum, sich mit einer Person sicher zu fühlen, alles besprechen zu können und den Aussagen der betreffenden Person zu trauen.
- Verstehen: Ein auf Sympathie und Wissen beruhendes emotional-geistiges und Alltagsverständnis der Person. Die Person wertschätzend kennen, ihre Wünsche und Bedürfnisse kennen, Stimmung und Gefühle erkennen zu können, die Bedeutung der Handlung und die Gedanken zu verstehen – sich auch wortlos verstehen können.
- Zuneigung: Zärtliches, freudiges Gefühl der Zuneigung gegenüber Partner: in. Gefühl der Zuneigung gegenüber der Person, Gefühl der Freude beim Zusammensein, Gefühl, gerne in körperlichem Kontakt mit der Person sein zu wollen. Das Gefühl der Zuneigung ist insgesamt stabil und jedenfalls nicht vorwiegend stimmungsabhängig.
Chancen und Gefahren
Es würde zu einer – mir nicht fernliegenden – Überlänge führen, wenn ich nun auf alle Chancen und Risiken der skizzierten 33 Dimensionen der Liebe eingehen würde.
Insofern greife ich nur einige instruktive Einzelbeispiele heraus, keineswegs vorwiegend, um Risiken aufzuzeigen, sondern auch um Chancen in Risiken sichtbar zu machen:
Irrationalität
Manchmal kann es hilfreich sein, den “verkopften” Ausgangszustand zu verlassen. Was rational scheint, muss nicht immer in letzter Folge der richtige Weg sein und glücklich machen.
Vielleicht sind wir so stark in festgefahrenes Denken und einen immer gleichen Alltag eingebettet, dass uns nur noch eine radikale Re-Fokussierung helfen mag.
Plötzlich liegt der Fokus auf einem geliebten Menschen, statt auf der Arbeit sind die Gedanken woanders.
So sehr die neue Situation irrational erscheinen mag und so “wahnsinnig” so manche daraus folgende Entscheidung erscheinen mag, vielleicht ist genau dies die Chance zu einem grundlegenden Wandel in einer unglücklich-verfestigten Lebenssituation.
Womöglich kommen Menschen auf diese Weise (vielleicht sogar erstmals) in Kontakt mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen.
Vielleicht hilft diese Erfahrung ihnen, aus einer zu starken Risikovermeidung herauszugehen und auch einmal womöglich sogar falsche Entscheidungen zu riskieren. Vielleicht können wir so Gefühle und Erfahrungen nachholen, die wir so nicht kannten oder bereits lange vermissten.
Schließlich mag dies “verrückt nach jemanden sein” durchaus der Anlass sein, den Menschen tatsächlich kennenzulernen, auch wenn am Anfang Missverständnisse, Verblendungen, scheinbar falsche Entscheidungen stehen mögen.
So mag aus dem “Verrückt-Sein” doch ein Verstehen, eine Akzeptanz, eine Passung und eine Bindung entstehen.
Ich selbst kenne aus meinem Bekanntenkreis eine Dame, die von einem auf den anderen Tag alles hinter sich ließ und ihrem Beziehungspartner in ein anderes Land folgte.
Sie löste damit damals Erstaunen, bei einigen Entsetzen aus, heute lebt sie weiterhin in diesem Land mit dem gleichen Partner, zwei Kindern und ist als Rechtsanwältin tätig.
Was damals wohl vielen irrational erschien, hat sich rückwirkend als Chance validiert.
Aber selbst, wenn es anders ist, wenn die Irrationalität tatsächlich dominiert und alles zusammenbricht, muss dies nicht immer der falsche Weg gewesen sein:
es gibt Menschen, die in einer von Anfang irrational erscheinenden Liebe tatsächlich grandios scheiterten und danach ihr Leben neu aufbauten und bis heute froh sind, diesen Weg gegangen zu sein.
Dass Liebe und Verstand nicht immer das gleiche sind, ist bekannt.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es auch eine Dimension der Liebe gibt, die den Verstand – jedenfalls isoliert betrachtet – zunächst außer Kraft setzt.
Besessenheit
Die Liebes-Dimension der “Besessenheit” kann eine Steigerung von Irrationalität sein, kann aber auch durchaus rationale Komponenten in sich vereinen.
Der Begriff wirkt eindeutig negativ. Aber auch hier sollten wir uns von einer kompletten Verdammung hüten.
Wir können schließlich auch von etwas Gutem und sogar von etwas Rationalem “besessen” sein und dies muss nicht immer zu unserem Schaden sein.
Es gibt Menschen, die sind “besessen“, Unrecht zu beseitigen und manche haben damit Erfolg – die Geschichte wäre sonst eine andere gewesen.
So manches Paar berichtet zu Anfang von einer “Besessenheit“, die sie nicht daran hinderte oder sogar dazu veranlasste, die Basis für ein jahrzehntelanges Glück zu schaffen.
Auch Besessenheit bildet insofern eine Dimension der Liebe und diese mag – wie die Irrationalität – durchaus positiv ausgehen.
Gefahren
Trotzdem kommen wir bei Irrationalität und Besessenheit an warnenden Beispielen nicht vorbei:
- vor einiger Zeit schrieb mich eine Dame an, die bat, dass Gleichklang sie finanziell dabei unterstützen solle, ihrer Partnerin zu helfen, die in den USA in einer äußerst prekären Situation sei. Kurz zusammengefasst, sei ihre Partnerin wegen fehlender Import-Lizenzen verhaftet worden, ins Gefängnis gelangt und könne erst wieder in Freiheit gelangen und dann zu ihr nach Deutschland ziehen, wenn sie einen weiteren ausstehenden hohen Betrag zahle. Da aber nunmehr die Finanzen des Mitgliedes zur Hilfeleistung bereits erschöpft seien, trete sie in ihrer Verzweiflung an uns heran.
Meine Nachfragen ergaben, dass das Mitglied keinerlei verifizierte Informationen über den Namen, den Aufenthaltsort, die anwaltliche Vertretung etc. ihrer (vermeintlichen) Partnerin hatte. Sie hatte auch nie bei der Botschaft nachgefragt, sondern lediglich indirekt über diverse (angebliche) Personen kommuniziert.
Erfreulich war in diesem Fall, dass es bei der Dame so war, als ob ihr die Schuppen von den Augen fielen. Sie erkannte ihren enormen Irrtum und das Ausmaß des Betruges und schloss daraus die richtigen Konsequenzen.
So “gut” endet es aber nicht immer, wenn die Liebe durch Irrationalität oder Besessenheit geprägt wird und dies ausgenutzt wird:
Zusammenbrüche, Depressionen, Gefängnisaufenthalte (Love-Scammer machen ihre Opfer manchmal zu Geldwäschern oder Drogenkurieren) bis hin zu Suiziden können die Folgen sein, wenn wir für die scheinbare Liebe alle Warnglocken ausschalten und uns allein durch Irrationalität, Verblendung und Fixierung leiten lassen.
Sich für die Liebe auf scheinbar Verrücktes einlassen oder sich komplett ohne kritische Prüfung in die Irre führen lassen, sind noch einmal zwei verschiedene Dinge.
Wenn wir auch manchmal in einem dennoch weiterhin begrenzten Sinne verrückt sein dürfen, sollten wir uns nicht in die Irre führen lassen:
- die Tatsachen sollten der Möglichkeit der neuen Liebe nicht objektiv komplett widersprechen.
- langfristig ist ein Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht als Basis für eine Liebesbeziehung zu empfehlen.
Es ist also hilfreich, bei aller Ekstase doch den Verstand einzuschalten, mögliche Diskrepanzen zwischen Verstand und Gefühl zu prüfen.
Dies gilt auch für unsere “Hochgefühle“:
Die euphorische Leidenschaft ist für viele Liebende eine echte Bereicherung und wir dürfen sie zulassen, solange sie uns nicht das Leben beschädigt.
In der Liebe kann viel Gutes und Erhaltendes, aber auch viel Schmerz und Vergängliches sein. Die leidenschaftlichen Komponenten neigen dazu, besonders stark beide gegensätzlichen Konsequenzen gleichzeitig oder zu unterschiedlichen Zeiten entfalten zu können.
Dies mögen wichtige Erfahrungen sein, die wir nicht missen wollen, und sie mögen uns zu einem neuen Bezug zu uns Selbst Anlass geben.
Zum Selbstschutz sollten wir aber gleichzeitig andere wichtige Komponenten der Liebe, wie Verstehen, echte Passung, Fürsorge und Zukunftsbezug nicht außer Acht lassen. Ein wesentliches Kriterium hierfür ist das der Reziprozität, mit dem sich der nächste Abschnitt beschäftigt.
Reziprozität als übergeordnetes Prinzip
Reziprozität ist bei Victor Karandashev und Stuart Clapp lediglich eine von 33 Liebesdimensionen.
Ich habe ihr aber bewusst einen eigenen Unterabschnitt gewidmet. Denn sie ist nach meiner Einschätzung mehr als eine einzelne Dimension, sondern geradezu eine übergeordnete Notwendigkeit, deren Vorhandensein oder Abwesenheit maßgeblich über Wohlbefinden, Beziehungszufriedenheit, Beziehungsstabilität, Selbstaufgabe oder Selbstschutz entscheidet.
Es geht hier um die Symmetrie in einer Beziehung, aus einer Perspektive der Liebe und der Möglichkeiten:
- so spricht es nicht gegen die Symmetrie, wenn ein Beziehungspartner krank ist und daher der andere Beziehungspartner alle Einkäufe übernimmt.
- es muss nicht das eine exakt vergolten werden.
- emotionale Zuwendung, Verbundenheit und Anerkennung durch den kranken Beziehungspartner können die höhere Handlungsaktivität voll kompensieren und für beide Seiten das Erleben einer gleichwertigen und gerechten Beziehung ermöglichen.
Der Bezug zwischen Reziprozität und Liebe ist inhaltlich naheliegend:
- lieben wir uns, sind wir füreinander da. Ist die Liebe beidseitig, gilt auch das Füreinander-Dasein beidseitig, so dass Wechselseitigkeit ganz natürlich eintritt.
- erleben wir Wechselseitigkeit, fühlen wir uns nicht ausgenutzt, sondern erleben Geben wie Nehmen als Ausdruck von Liebe und gleichzeitig als deren Verstärkung.
Bein einigen Dimensionen der Liebe, die potentiell mit Gefahren verbunden sind (z.B. Aufopferung), ist es meistens vor allem das Fehlen der Reziprozität, die die Gefahr erst entstehen lässt:
- mich für jemanden aufopfern, der mich ausbeutet
Aber auch bei anderen Dimensionen ist dies erkennbar:
- Sehnsucht nach jemanden erleben, der froh ist, wenn ich weg bin
- irrational lieben, wenn der Beziehungspartner rational nur auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist
- an Beziehungspartner glauben und vertrauen, obwohl Doppelleben und Hintergehen dessen Beziehungsverhalten prägen
- sich an jemanden binden, der sich trennen will
- sexuelle Begehren, obwohl der andere nicht sexuell begehrt
Dies soll nicht heißen, dass alle Gefahren der Liebe bei gegebener Reziprozität in sich zusammenbrechen – zwei Menschen mögen reziprok sich gemeinsam schädigen – aber ein Großteil der Gefahren nehmen ab oder verschwinden, wenn Reziprozität erkennbar wird.
Allerdings ist zu unterscheiden zwischen objektivierter, nachvollziehbarer Reziprozität, die gegebenenfalls auch andere beobachten könnten, und rein subjektiv erlebter Reziprozität.
Reziprozität mag durchaus illusorisch erlebt werden, selbst wenn sie nicht vorhanden ist, oder sie mag sich ausschließlich auf Leidenschaft und Begehren beziehen, jedoch in Bereichen von Fürsorge und Beziehungs-Investment fehlen.
Viele Dimensionen mögen ein gewisses Maß an mehr oder weniger Reziprozität bei Beziehungspartnern gut vertragen:
Wechselseitigkeit braucht also nicht alle Dimensionen der Liebe zu charakterisieren. Ausgleich ist durch andere Dimensionen möglich:
so mag eine Seite Bewunderung, Faszination und starkes Begehren erleben, während dies bei der anderen Seite eher fehlt, aber dennoch gemeinsam Intimität, Vertrauen, Glauben, Bindung und in diesem Fall vor allem auch Akzeptanz für die Unterschiede verbinden.
Die Empfehlung lautet daher, von Anfang an auf eine übergreifende Reziprozität zu achten. Dies allerdings nicht als ein strenges “Quid pro Quo” oder Abzählen, sondern als eine wahrnehmbare Entstehung von Wechselseitigkeit in Zuwendung, Bemühung und Fürsorge.
Missverständnisse können besprochen werden und wir alle können lernen, nicht nur auf uns, sondern auch auf den anderen zu achten. Ist die Bereitschaft vorhanden, wird Wechselseitigkeit entstehen.
Wichtig ist jedoch ebenfalls, das eigene Erleben und die eigenen Gefühle ernstzuehmen, wenn der Eindruck der Unausgeglichenheit oder gar der Ungerechtigkeit entsteht.
Lässt sich dieser Eindruck trotz aller Gespräche, vielleicht auch trotz Paarberatung oder Paartherapie, nicht entkräften oder verweigert sich eine Seite jedem Versuch, mag es ratsam sein, zum Selbstschutz über Trennung nachzudenken.
Kameradschaft und Leidenschaft
Leidenschaftliche und kameradschaftliche romantische Liebe können als Gestaltungs-Typen betrachtet werden können, wobei manche Menschen ihre Beziehung eher leidenschaftlich und die anderen eher kameradschaftlich führen.
Es gibt aber auch einen typischen Entwicklungsverlauf:
- kürzere Beziehungen sind eher leidenschaftlich, längere kameradschaftlich.
- jüngere Menschen haben eher leidenschaftliche, ältere eher kameradschaftliche Beziehungen.
Wie spiegeln sich die durch Karandashev und Clapp identifizierten 33 Dimensionen in den Grundtypen der leidenschaftlich-romantischen und kameradschaftlich-romantischen Leben und ihren Entwicklungsmustern wider?
- die Gruppe der leidenschaftlich Liebenden ist demnach insbesondere charakterisiert durch Dimensionen der Sehnsucht, Bewunderung, unmittelbarer Dankbarkeit und der gefühlsmäßig erlebten Reziprozität und Passung.
- die kameradschaftlich Liebenden zeigen stärkere Ausprägungen in Dimensionen der Gemeinsamkeit, der Fürsorge, des Schutzes und des Interesses.
Wieso aber spielt Reziprozität vor allem bei leidenschaftlicher Liebe eine so große Rolle?
Die Autoren finden in ihren Analysen einen auf den ersten Blick vielleicht überraschenden negativen Zusammenhang zwischen Reziprozität und Fürsorge, der dies aber sehr gut erlären kann:
- leidenschaftlich Liebende erleben subjektiv-ekstatisch eine Reziprozität, die sich ganz aus der unmittelbaren Gegenwart ergibt, dem positivem Erleben im Hier und Jetzt.
- es geht den leidenschaftlich Liebenden aber mehr um das aktuelle positive Erleben mit der Person als um das auch langfristige Wohlbefinden der Person.
Wir sehen hier also das Wirksamwerden der oben angesprochenen wenig objektivierten, nachvollziehbaren, sondern rein subjektiv erlebten Reziprozität, die durchaus ausschließlich aus wechselseitigem Leidenschaft und Begehren folgen mag, ohne sich auf Fürsorge und Beziehungs-Investment zu beziehen.
Ein sehr ähnlicher Befund und eine ähnliche Erklärung ergeben sich zu den Dimensionen der Einzigartigkeit und der Passung. Beiden wird von leidenschaftlich Liebenden nämlich ebenfalls ein sehr hohes Gewicht zu gewiesen.
Hintergrund ist besondere Verarbeitung, die die als “phantastische Wahrnehmung” von Passung und Einzigartigkeit nennen:
- die geliebte Person wird subjektiv-emotional schlichtweg deshalb als einzigartig, bemerkenswert und passend erlebt, weil Liebe wahrgenommen wird. Das Gefühl steht bei der leidenschaftlichen Liebe im Vordergrund.
- demgegenüber geht es bei der kameradschaftlichen Liebe darüberhinaus darum, für Beziehungspartner da zu sein, sich für sie einzusetzen, Anteil zu nehmen und mit Empathie zu reagieren.
Leidenschaft ist zusammenfassend stärker auf das Erleben der unmittelbaren Gegenwart bezogen, kameradschaftliche Liebe kennt das Erleben der Gegenwart ebenfalls, bezieht aber zusätzlich weitergehende und auch zukunftsbezogene Fürsorge und Bindung mit ein.
Bemerkenswert ist ebenfalls ein gegensätzliches Zusammenhangsmuster zwischen romantischen und freundschaftlichen Komponenten bei den leidenschaftlich Liebenden, bei denen die zärtlichen, freudigen Gefühle der Zuneigung und der Wunsch nach Präsenz negativ assoziiert sind mit dem Interesse an einer Person und dem tatsächlichen Wunsch nach freundschaftlich verbrachter gemeinsamer Zeit und Begleitung.
Hier zeigt sich in der Interpretation von Karandashev und Clapp ein entgegengesetztes Verhältnisse von Freundschaft und romantischer Verbindung bei leidenschaftlich Liebenden, die diese beiden Aspekte nicht miteinander kombinieren können, während dies kameradschaftlich Liebenden ohne weiteres möglich ist.
Insgesamt erscheint in den Analysen von Karandashev und Clapp die leidenschaftliche Liebe in ihrer Strukturierung durch die 33 Einzeldimensionen wesentlich weniger konsistent und widersprüchlicher als die kameradschaftliche Liebe.
Die Struktur der kameradschaftlichen Liebe ist klarer zu interpretieren, weniger durch oppositionelle Dynamiken gekennzeichnet und integriert in sich sowohl kameradschaftliche als auch leidenschaftliche Aspekte.
So bilden bei der kameradschaftlichen Liebe die Dimensionen der Hochgefühle, Zuneigung und des Begehrens einen einheitlichen Faktor, während sich diese Aspekte bei den leidenschaftlich Liebenden aufspalten, isolieren und teils in Widerspruch zu anderen Dimensionen stellen.
Innerpsychisch bedeutet dies einen stärkeren Ruhepol der kameradschaftlich-romantischen Liebe, ein höheres Sicherheit- und Schutzerleben. So wird es plausibel, dass die kameradschaftlich-romantische Liebe vor allem längere Beziehungen kennzeichnet und dass Jugendliche fast immer leidenschaftlich beginnen, ihre ersten Beziehungen aber meistens scheitern.
Vollständige Liebe
Die Strukturanalysen von Karandashev und Clapp widerlegen übrigens auch die zu einfache Annahme, dass Leidenschaft quasi ein Gegensatz zu Kameradschaft ist. Tatsächlich erweist sich letztlich die kameradschaftlich-romantische Liebe als die vollständigere Liebe. Denn ihr Unterscheidungsmerkmal zur leidenschaftlichen Liebe ist nicht vorwiegend das Fehlen von Leidenschaft, sondern das Hinzutreten von Dimensionen der Fürsorge und Dauerhaftigkeit. Leidenschaft kann – ob hoch oder niedrig – in diese Liebe integriert werden.
Demgegenüber kennzeichnet sich die leidenschaftliche Liebe im Grunde durch einen Mangel an freundschaftlich-kameradschaftlichen und fürsorglichen Aspekten. Treten diese hinzu, wird die leidenschaftliche Liebe zur kameradschaftlich-romantischen Liebe.
Wer liebt mehr?
Alle Befragten der Studie von Victor Karandashev und Stuart Clapp wurden ebenfalls gebeten, anzugeben, wie stark sie selbst ihre Liebe für ihre Beziehungspartner einschätzen.
Das Ergebnis ist eindeutig:
- die kameradschaftlich-romantisch Liebenden gaben im Durchschnitt signifikant höhere Liebesgefühle für ihre Beziehungspartner an als die leidenschaftlich-romantisch Liebenden.
Die kameradschaftlich-romantische Liebe vereint als Ausdruck eines besonders tiefen Gefühls der Liebe in sich Aspekte von Intimität, Fürsorglichkeit, Sorge, Zukunftsbezug und Bindung.
Leidenschaftliche Liebe mag zwar als ergreifend und drängend, alles andere überschattend erlebt werden, ist aber tatsächlich genussorientierter und damit im Grunde selbstbezogener.
Die Intensität und Tiefe der kameradschaftlich-romantischen Beziehungen zeigt sich auch darin, dass am Ende die erlebte Liebe doch durch die kameradschaftlich Liebenden als höher geschildert wird als diese von den leidenschaftlich Liebenden beschrieben wird.
Welche Liebe vermittelt Gleichklang?
Wir haben keinen direkten Einfluss darauf, wie Mitglieder ihre Liebesbeziehungen gestalten und ihre Liebesbeziehungen entwickeln. Die Basis der Vermittlung von Gleichklang beruht aber darauf, die Aussichten für die kameradschaftlich-romantische Liebe zu stärken.
Denn die Übereinstimmungen in Werthalten und Lebensmodellen ist vorwiegend dann wichtig, wenn es um den Aufbau langfristiger Beziehungen geht, die nicht nur auf Sehnsucht, Bewunderung, momentaner Dankbarkeit und subjektiv-übersteigert erlebter Reziprozität beruhen, sondern die eine tatsächliche, auch objektivierbare Passung und beschreibbare Wechselseitigkeit im Langzeitbezug aufweisen und damit die Aussichten für Intimität, Gemeinsamkeit, Akzeptanz und Bindung erhöhen.
Der rein leidenschaftliche Aspekt ist bei der Vermittlung schwer oder nicht kontrollierbar.
Aus Umfragen wissen wir, dass Gleichklang-Beziehungen sich unterscheiden bezüglich der leidenschaftlichen Intensität. Es hängt sehr von der jeweiligen Situation der Betreffenden und den Personen ab, ob bei hoher Passung der Werthaltungen und Beziehungsmodelle starke Leidenschaft entsteht oder nicht.
Aber unabhängig davon, wie hoch die leidenschaftliche Intensität ist, birgt die Passung von Werthaltungen und Beziehungs-Modellen eine gute Basis, aus der Sympathie, Liebe und ein gemeinsamer Lebensweg entstehen können.
Dies ist aber auch für leidenschaftlich beginnende Beziehungen hilfreich:
- kommt es zu starker Leidenschaft, wird durch die Vorauswahl sichergestellt, dass es neben der leidenschaftlich-subjektiv erlebten Passung auch eine rationalere und beschreibbare Passung gibt, die die Aussichten verbessert, dass sich die Fürsorge- und Beziehungs-Investmentaspekte ebenfalls entwickeln werden.
- während Leidenschaft so ohne weitere möglich bleibt, sinkt die Gefahr blinder und gegeben falls gar schädigender Leidenschaft ab.
Dies bedeutet umgekehrt, dass starke Leidenschaft nicht zwangsläufig auftreten muss:
- tritt keine starke Leidenschaft auf, folgt daraus nicht, dass eine Beziehung nicht möglich wäre, weil sich die kameradschaftlich-romantische Liebe – also die Liebe, die letztlich hält – auch schrittweise und langsam aus Sympathie entwickeln und zu Liebe vertiefen kann.
Worum es letztlich geht
Schlussendlich ist das Ziel, zufrieden, glücklich und mit sich selbst im Reinen zu sein. Ob eine Beziehung Ihnen guttut oder nicht, können daher nur Sie selbst beurteilen.
Unterschiedliche Menschen erleben unterschiedliche Arten von Interaktion und Beziehungsgestaltung als unterschiedlich verstärkend, angenehm oder unangenehm.
Die Zergliederung der Liebe in 33 Dimensionen durch Victor Karandashev und Stuart Clapp macht diese hohe Individualität noch einmal deutlich, die auch durch die übergeordnete Zuweisung zu zwei Grundtypen (leidenschaftlich-romantisch, kameradschaftlich-romantisch) nicht aufgehoben wird.
Die Empfehlung lautet, sich bewusst zu machen, welche Dimensionen der Liebe Ihnen gut tun oder Sie belasten. Dazu gehört auch, bei der Partnersuche, beim Beziehungsaufbau und während der Beziehung das eigene Erleben immer wieder zu validieren und daran arbeiten, dass Liebe sich in der Form entwickelt, wie sie Sie glücklich macht.
Fraglos besteht ein hohes Ausmaß an Individualität, aber es gibt auch übergreifende Grundtendenzen. Hierzu gehört die Erkenntnis, dass Liebe, die nur auf Leidenschaft setzt, entweder im Durchschnitt oft fragil bleibt und letztlich in geringerer Intensität als Liebe erlebt wird oder aber sich aus ihrer Unvollständigkeit weiterentwickelt hin zu einer vollständigeren kameradschaftlich-romantischen Liebe, die dabei (trotz) ihres Schwerpunktes auf Fürsorglichkeit, Gemeinsamkeit und Bindung leidenschaftliche Erlebens-Komponenten mit integrieren und erhalten kann.
Was wir lernen können
Ich komme nun noch einmal, auf die beiden Zuschriften zurück:
- “ich bin mir unsicher wie lange ich den Kontakt mit potenziellen Partnern aufrechterhalten soll: Ich bin im Zwiespalt zwischen lange dran bleiben, um auf keinen Fall eine irgendwann sich einstellende Verliebtheit zu verpassen, und dem Anderen keine falschen Hoffnungen machen/zu früh aufzugeben.”
“Verliebtheit” ist ein Hochgefühl mit starkem Euphorisieren, welches ebenfalls Komponenten von Bewunderung, Faszination, sexuellen Begehren, Idealisierung, Irrationalität, Besessenheit, Einzigartigkeits- und Passungserleben und eine geradezu als magisch erlebte gefühlsmäßige Wechselhaftigkeit einbeziehen kann.
Verliebtheit gibt uns die Information, dass Liebe und auch eine glückliche Beziehung möglich sind – unter der Voraussetzung, dass es ebenfalls gelingt, die Komponenten der Fürsorglichkeit, objektivierteren Passung und Reziprozität, des Verstehens und Interesses, der Bindung, der gemeinsamen Aktivitäten und des Zukunftsbezugs zu entwickeln.
Umgekehrt bedeutet ein Ausbleiben der Verliebtheit aber nicht, dass nicht dennoch genau diese Komponenten der Fürsorglichkeit, objektivierteren Passung und Reziprozität, Bindung, des Verstehens, der gemeinsamen Aktivitäten und des Zukunftsbezugs entstehen könnten.
Es mag sogar sein, dass erst die stärker fürsorglich-verstehenden Komponenten sich entwickeln und Verliebtheit folgt.
Bleibt die Verliebtheit aus, braucht dies kein Stopp-Signal zu setzen, falls eine Sympathie erkennbar wird, die mit einem Interesse an der Person einhergeht, so dass die Möglichkeit zur weiteren Vertiefung hin zu Liebe und einem gemeinsamen Leben besteht.
Wenn sich allerdings – trotz gemeinsamen Austausches – auch kein Interesse erzeugendes Gefühl der Sympathie ergibt, dann ist tatsächlich der Zeitpunkt gekommen, dies offen mitzuteilen und den Fokus wieder auf andere aktuelle oder künftige Optionen zu legen.
- “Es war ein schönes Erlebnis, vor allem die Nähe, die menschliche Wärme und Geborgenheit hat uns beiden gutgetan. … Ich bin aber unabhängig von diesem positiven Erlebnis immer wieder sehr unsicher, ob wir überhaupt zusammenpassen. … dass ich mir die Frage nicht beantworten kann, ob wir aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen überhaupt eine Chance haben.”
Nähe, menschliche Wärme und Geborgenheit sind – ganz ähnlich wie Verliebtheit – fraglos eine gute Voraussetzung, um ein weiteres Zusammenkommen miteinander auszuloten.
Finden sich in dieser Auslotung Ansatzpunkte für einen geteilten Lebensbezug, für Verstehen, Fürsorglichkeit und Zukunftsplanung stünde dem Beginn einer Liebesbeziehung nichts mehr im Wege.
Unterschiedliche Vorstellungen brauchen einer Beziehung nicht entgegenstehen, wie die Liebes-Dimension der Akzeptanz prägnant deutlich wird:
- Respekt gegenüber der Person und ihrem Lebensstil. Annehmender und akzeptierender Umgang mit Unterschieden. Toleranz auch gegenüber Interessen, die nicht den eigenen Interessen entsprechen.
Wichtig ist, dass neben den Unterschieden auch Verbindendes besteht.
Wenn Wärme und Geborgenheit bereits vorhanden sind, ist der beste Weg, über Unterschiede, Interessen, die Lebens- und Zukunftsplanung zu sprechen und dabei authentisch und ergebnisoffen auf Möglichkeiten für Gemeinsamkeiten, für Akzeptanz von Unterschieden, aber auch auf unvereinbare Diskrepanzen zu achten.
Es ist sehr oft hilfreich, die eigene Unsicherheit direkt anzusprechen, um so die Antwort des anderen zu hören, sich wechselseitig zu verstehen und herauszuarbeiten, ob ein gemeinsamer Lebensweg möglich und gewollt ist.
Abschließende Empfehlungen
Die abschließende Empfehlung lautet, Liebe nicht als sofort vorhanden und fertig zu erwarten, sondern ihr durch einen offenen und radikal ehrlichen Austausch mit dem potentiellen Beziehungspartner und sich selbst eine Chance zur Entwicklung zu geben.
In diesem Prozess mag es ebenfalls hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass bei allen verständlichen und berechtigten emotionalen Erlebniswünschen es am Ende nicht vorwiegend die Leidenschaft ist, die eine Beziehung erhält, sondern die kameradschaftliche Fürsorglichkeit, das Verstehen und Annehmen sowie der gemeinsame Lebensentwurf, der im Kennenlernprozess zu erarbeiten ist.
Der britische Psychologe Lee sprach von den Farben der Liebe. Viele Jahre später haben Victor Karandashev und Stuart Clapp noch einmal eindrucksvoll aufgezeigt, wie vielgestaltig, dynamisch, sogar konträr die Phänomene sind, die wir unter dem Begriff der Liebe zusammenfassen und wie sie dennoch auf die Grundtypen der Leidenschaft und der Kameradschaft konvergieren.
Ich hoffe, dieser Artikel mag bei manchen Lesern und Leserinnen den Zugang zur Liebe erleichtern:
- den Eindruck der Unkontrollierbarkeit und Hilflosigkeit mindern, den Menschen oft erleben, die sich mit der Liebe deshalb beschäftigen, weil sie sie bisher nicht gefunden haben, unglücklich mit ihr geworden sind oder genau eine Form der Liebe suchen, die sich vielleicht bereits erlebten, aber verloren. Tatsächlich gibt es sehr viele Aspekte der Liebe, an denen wir sehr explizit arbeiten können.
- die fixe Idee loslassen, Liebe müssen genau eine Form annehmen und alles andere komme nicht in Frage oder sei keine Liebe. Während das Ziel sicherlich typischerweise eine fürsorgliche, stärkende und verstehende Liebe ist, gibt es vielfältige Gestaltungsräume, die durch Akzeptanz von Unterschieden und Beziehungsarbeit erschlossen werden können.
- die Angst vor einem befürchteten eigenen Defizit an Liebesfähigkeit abbauen und Liebe als für die eigene Person “machbar” und “möglich” erscheinen lassen. Selbst wer glaubt, er oder sie können sich nicht verlieben, kann dennoch eine Liebesbeziehung aufbauen.
- die positiven, Lebensglück bildenden und stabilisierenden Aspekte der Liebe herauszustellen und die Veränderbarkeit möglicher destruktiver und leiderzeugender Aspekte erkennen und angehen.
- nicht aus Torschlusspanik Ja-Sagen, aber auch nicht aus Bindungsangst Nein-Sagen oder aufschieben, sondern in einen ehrlichen Austausch treten und dabei ausloten, ob und welche Aspekte von Zuneigung und Liebe entstehen, an die eine Beziehungsentwicklung anknüpfen kann.