Wenn Krankheit eine Beziehung beendet
Soeben lese ich einen Artikel über die Geschichte einer Liebe, die als romantische Beziehung an einem Gehirntumor zerbrach:
Der Titel lautet selbsterklärend – ins Deutsche übersetzt:
- Ich habe meinen Verlobten geliebt, aber nach seiner Hirntumordiagnose wusste ich, dass ich ihn verlassen musste.
Nach einer partnerschaftlichen Trennung fand die Danielle über eine Dating-App mit Jelle ihre große Liebe. Die Passung, die gemeinsame Freude, die Zukunftspläne, die Leidenschaft waren da. Beide gelangten sehr schnell zu der Überzeugung, dass sie nun im Hafen der Liebe angekommen seien.
Mitten in das romantische Glück hinein trat ein bösartiger Gehirntumor bei Jelle. Sofort bei der Diagnose war Danielle klar, dass kein Weg an der Trennung vorbeiführt. Sie deutete es ihm bereits auf dem Operationsbett an und machte es klar, als er aus der Narkose aufwachte. Denn würde sie anders handeln, davon war Danielle überzeugt, würde sie ihr Lebensglück verlieren.
Verschiedene Konzepte von Liebe und Glück
Ich nehme an, so manche Leser:innen hätten eine andere Entscheidung getroffen. Was wir daraus ersehen, ist:
- Es gibt unterschiedliche Konzeptionen dessen, was Liebe ist, und dessen, was Glück ist. Je nachdem, welche Konzepte wir selbst verinnerlicht haben, verhalten wir uns in dieser oder in jener Weise. Allerdings – und dies kann zum Problem werden – unterstellen wir oft, dass die andere Person ähnliche Vorstellungen von Liebe und Glück hat wie wir, ohne diese gemeinsam explizit zu klären.
Die Psychologen Mario Mikulincer und Phillip R. Shaver schildern in einem Artikel im von Robert J. Sternberg herausgegebenen Buch “The new psychology of love“ romantische Liebesbeziehungen als eine Interaktion zwischen den Systemen der Bindung, der Fürsorge und der Sexualität:
- Das Bindungssystem dient dazu, uns ein Gefühl der Sicherheit und Stabilität zu geben.
- Das Fürsorge-System hilft uns, uns Menschen zuzuwenden, die bedürftig sind, und umgekehrt, selbst Fürsorge zu erhalten, wenn wir sie brauchen.
- Sexualität ist ein zentraler Primärverstärker, den wir mehrheitlich per se als beglückend erleben.
Diese drei Systeme interagieren vielfältig miteinander. So fördert eine Aktivierung des Bindungssystems meistens auch Fürsorge und den Wunsch nach sexueller Nähe. Aber auch umgekehrt führt die Aktivierung des Fürsorge-Systems zu mehr Bindungssicherheit und kann ebenso den Wunsch nach sexueller Nähe erhöhen. Sexualität kann wiederum – muss aber nicht – Fürsorge und Bindung stärken oder gar auslösen.
Ich stelle dies sehr verkürzt dar, nur um herauszuarbeiten, dass Fürsorge keineswegs per se mit Unglück verbunden sein muss:
- Im Gegenteil, nach im Artikel von Mikulincer und Shaver dargestellten Studien korreliert die fürsorgliche Liebe nicht negativ, sondern positiv mit der Beziehungszufriedenheit. Auch erleben wir, wenn wir uns zuwenden, typischerweise nicht weniger, sondern mehr Liebe und wir geraten mit uns selbst, wenn wir uns fürsorglich verhalten, meistens nicht mehr, sondern weniger in Dissonanz.
Angst vor Fürsorge?
Ganz alternativlos wäre die Entscheidung von Danielle also nicht gewesen.
Tatsächlich fällt mir immer wieder eine gewisse Angst vor der fürsorglichen Liebe auf.
Worauf beruht diese Angst?
Bei Danielle war es die Sorge, dass sie unglücklich werden würde, wenn sie ihre Lebensplanung ändern müsste:
- Verloren war die Leichtigkeit. Die Zukunft wäre nicht die Gleiche gewesen, wie sie zuvor noch dachten. Die Endlichkeit des Lebens war plötzlich nähergerückt und manches, was geplant und freudig erwartet worden war, hätte umdisponiert werden müssen.
Ich glaube, im Modell von Danielle war die fürsorgliche Komponente der Liebe wenig repräsentiert oder sogar mit Unglück assoziiert. Womöglich gibt es hierfür biografische Gründe.
So konnte sie sich nach ihrem eigenen Erleben nur für ihr Lebensglück entscheiden, wenn sie sich gegen ihre Beziehung entschied. Die Verlobung war bereits vollzogen, die Hochzeit wurde abgesagt.
Psychologische Forschungsbefunde zeigen demgegenüber, dass fürsorgliches Verhalten die Liebe erhöhen und unsere Zufriedenheit mit einer Beziehung und mit uns selbst steigern kann. Es bleibt insofern offen, ob das Lebensglück von Danielle tatsächlich an der Fortsetzung der Beziehung gescheitert wäre.
Die Angst vor der fürsorglichen Liebe hat dennoch einen wahren Kern:
- Zur Gefahr wird die fürsorgliche Liebe, wenn nur eine Seite fürsorglich ist. Sich für Partner:innen aufzuopfern, die sich selbst bei der ersten Kleinigkeit abgrenzen, macht selten glücklich und wird oft als Ungerechtigkeit erlebt.
Wird die fürsorgliche Liebe aber richtig verstanden, gibt sie den Beteiligten die Sicherheit, dass ihr gemeinsamer Weg in der Not nicht endet, sondern weitergeht. Die fürsorgliche Liebe hat also durchaus Vorteile für beide Seiten:
- Denn durch die Sicherheit, die sie gibt, kann das Lebensglück sofort gesteigert und die Lebensangst gemindert werden.
Liebe jenseits von Fürsorge?
Nicht jeder wird und braucht diesen Weg aber zu gehen:
- Es gibt beispielsweise Menschen, bei denen die spielerische Liebe dominiert. Liebe ist für diese wie ein schönes Essen, das wir genießen können, aber über welches wir nicht traurig sein müssen, wenn es vorbei ist.
Bei denen, wo Liebe eher ein Spiel ist, erfolgen Trennungen schnell, wenn die Spielregeln sich ändern. Bei Danielle und Jelle war dies allerdings nicht der Fall, aber darauf komme ich gleich zurück.
Fundamentaler Rat für die Partnersuche
Was aus alledem folgt, ist dieser fundamentale Rat für die Partnerwahl:
- Sprechen Sie offen miteinander über ihre Modelle und Konzepte von Liebe. Achten Sie bei der Partnerfindung darauf, dass die Modelle passen und zu den Konsequenzen führen, die für Sie von zentraler Bedeutung sind.
Sehen Sie Liebe als Fürsorge und feste Bindung, sollten Sie nicht mit jemanden zusammen kommen, für den Liebe vor allem vergänglicher Genuss ist.
Aber auch, wie wir in Beziehungen mit Lebensrisiken und Veränderungen umgehen wollen, sollte von vornherein besprochen werden und nicht erst dann, wenn der Fall der Fälle eintritt.
Identifizieren Sie sich mit Danielle, sollten Sie sich Partner:innen suchen, die dies ähnlich sehen. Sind Sie über Danielle empört oder macht sie ihre Entscheidung traurig, sollten sie ebenfalls jemanden suchen, der dies vergleichbar erlebt.
Die Liebe miteinander in allen Facetten teilen, wenn beide physisch stark und gesund sind, aber auseinandergehen, wenn einer von Einschränkung und Lebensendlichkeit betroffen wird. Sehen dies beide so, ist dies durchaus ein tragfähiges Modell.
Enttäuschung, Ärger, Hilflosigkeit und Verbitterung werden aber entstehen, wenn Sie dies anders sehen und die geliebte Person sie im Fall der Krankheit verlässt.
Wie war es bei Danielle und Jelle?
Es war nicht ganz symmetrisch, aber auch nicht völlig asymmetrisch. Es war nach meiner Ansicht dieser Ähnlichkeit, die es den beiden ermöglichte, in Freundschaft miteinander verbunden zu bleiben:
Gerade aufgewacht aus der Narkose protestierte Jelle, eine Heilung sei doch möglich. Aber genau damit war er bereits nah bei Danielle. Denn ohne Heilung – so der implizite Schluss – wäre auch für ihn die Trennung der logische Weg gewesen.
Ihre Beziehung war also für beide eine schöne Zeit gewesen, mit einer Zukunft, deren Schönheit sich ihnen weniger durch die Liebe zur Person an sich erschloss, als daraus, was sie beide gemeinsam miteinander unternehmen wollten. Es war wie eine geplante Reise, wo eine Reisepartner:in ausfällt und die andere Seite die Reise dennoch fortsetzt.
Romantisch und spielerisch war ihre Liebe, nicht aber fürsorglich im Sinne der wechselseitigen Bereitschaft und des Willens, sich, wenn nötig, auch für einander aufzuopfern. So endete die Beziehung an dem Punkt, wo nur die Aktivierung des Fürsorge-Systems sie hätte erhalten können.
Für beide war die Liebe aber nicht nur ein Spiel, sondern ebenso Kameradschaft und Freundschaft. Dies machte es ihnen möglich, ihre Liebe in eine Freundschaft zu transformieren.
Tiefgreifend enttäuscht, verletzt, verärgert, sogar traumatisiert – nicht wenige wären dies gewesen, wenn sie aus der Narkose nach einer Gehirn-OP mit der Trennung konfrontiert worden wären. Nicht aber Jelle. Sicherlich schön war es nicht, aber letztlich war es für ihn doch in Ordnung und so wurde ihm ohne Verbitterung und Wut eine Freundschaft mit Danielle möglich.
- Viel Unglück lässt sich vermeiden und viel Glück lässt sich erreichen, wenn wir bei der Partnerfindung auf passende Beziehungsmodelle achten.
Für mich ist dies die Quintessenz aus der letztlich ja doch fortdauernden Liebesgeschichte von Jelle und Danielle.