Dies ist das Skript zu meinem Video “Psychologie der toxischen Beziehung” – nicht wortgleich, aber doch im Wesentlichen identisch.
In diesem Skript können auch alle im Video genannten Literaturquellen nachgelesen werden. Wie bei YouTube üblich ist das Video in der Du-Form und diese wurde daher auch im Text beibehalten.
Vorschau auf Inhalte
Für 93 % aller Erwachsenen ist eine feste partnerschaftliche Beziehung eines ihrer wichtigsten Lebensziele. Aber wo Licht ist, ist oft auch Schatten. Emotionale und psychische Gewalt, körperliche Gewalt, Kontrolle, Missachtung, Manipulation, emotionale Abhängigkeit, enormes seelisches Leid. Mehr als jede dritte erwachsene Person war bereits in einer toxischen Beziehung und nicht allen gelingt der Ausstieg. Was ist eine toxische Beziehung? Wie geraten wir in eine toxische Beziehung? Können wir toxische Beziehungen heilen oder wie können wir uns aus ihnen lösen? Wie kommt es überhaupt zu toxischen Beziehungen und gibt es immer eine klare Täter- und Opferverteilung? Können wir nach einer toxischen Beziehung wachsen? Was können wir selbst tun, damit unsere nächste Beziehung nicht toxisch, sondern glücklich wird? Heute stelle ich einige psychologische Befunde, Daten und Überlegungen vor, die Dir dabei helfen sollen, 1. ) toxische Konstellationen besser zu verstehen und rechtzeitig zu erkennen, 2. ) toxische Konstellation aufzulösen oder aus ihnen auszusteigen, und 3. ) sofern Du auf Partnersuche bist, Dein Beziehungsglück und nicht Dein Unglück zu finden. Genau hierfür kannst Du nämlich eine ganze Menge tun. Hast Du selbst Erfahrungen mit toxischen Beziehungen? Schreib es mir bitte nachher in die Kommentare. Nach einer ganz kurzen Unterbrechung geht es gleich weiter, bleibt dran.
Merkmale toxischer Beziehungen
Ich starte mit einer nach meiner Ansicht beeindruckenden, Promotion der Psychologin Callie Graham von der Arizona State University aus den USA unter dem Titel „Demystifying Toxic Romantic Relationships: Identifying Behaviors and Post-Breakup Outcomes“.
Graham und ihr Team haben Diskussionen bei Reddit and Quora durchgearbeitet, um hieraus die zentralen Merkmale toxischer Beziehungen zu kondensieren. Aus 1615 Beschreibungen, oftmals die Erfahrungen der direkt Betroffenen, haben sie 14 zentralen Bereiche herausgearbeitet.
Ich gehe diese jetzt nacheinander und nach ihrer Häufigkeit sortiert – durch:
Kontrolle, Besitz und Isolation
„Versucht, dich zu kontrollieren, von deinen Freunden zu entfremden, zwingt dich, sich zwischen Beziehung und Familie/Karriere/Leidenschaft zu entscheiden, versucht, Deine sozialen Medien zu kontrollieren.“
- Überwachung und Kontrolle von Telefon und sozialen Netzwerken
- Kein Recht auf Zeit für sich und eigene Hobbys
- Isolation von Familie und Freundeskreis
Fundamentaler Mangel an Balance
“Was sie wollen, bekommen sie; was Du willst, steht zur Disposition. Was sie genießen, musst auch Du genießen, auch Du es hasst.”
- Beziehung dreht sich nur um eine Person
- Bedürfnisse kommen nicht wechselseitig zur Geltung
- Egozentrisches, selbstsüchtiges, selbstgerechtes Verhalten
Verantwortung leugnen und Schuldzuweisung
„Wenn sie etwas tun, das Dir unangenehm ist, werden sie wütend auf Dich, weil Du Dein Unbehagen zum Ausdruck bringst.“
- Eigene Anteile werden ausgeblendet
- Für sich selbst Opferhaltung reklamieren
- Schuldzuweisung für eigenes Fehlerverhalten
Permanente Kritik
„Ab und zu ein bisschen necken ist in Ordnung, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht. Aber wenn die Witze immer auf Kosten einer Partei gehen – besonders vor anderen Leuten, um sie herabzusetzen – ist das ein Warnsignal.“
- Sarkasmus, Kritik und Feindseligkeit
- Abwertung von Partner:innen
- Erniedrigung und Demütigung vor anderen
Täuschung und Manipulation
“Sie sind Chamäleons, die eine Fassade vorspielen, die sich völlig von dem unterscheidet von dem, was sie wirklich sind.”
- Falsche Angaben zur eigenen Person
- Permanente „Notlügen“ auftischen
- Bewusstes Auslassen
- Erfinden von Geschichten (Pseudologia Phantastica)
- Widerspruch zwischen Reden und Handeln
- Nach außen Sonnenschein verbreiten
Vernachlässigung
„Wenn Dein Partner nicht versucht, Dich und Deine Situation überhaupt zu verstehen.“
- Kein Interesse oder Respekt für Sichtweise von Partner:innen
- Alle Ideen oder Gedanken werden ignoriert
- Kein Eingehen auf Gefühle von Partner:innen
- Kein Interesse an Wohlbefinden der Partner:innen
Gaslighting
„Du beginnst, deine Realität in Frage zu stellen, und ob du nicht verrückt bist und dir Dinge einbildest, weil sie über Dein Verhalten lügen und Negativität projizieren, Dinge verdrehen, damit du dich als diejenige Person fühlst, die sich entschuldigen muss.”
- Partner:innen an ihren eigenen Beobachtungen und/oder Sinneseindrücken zweifeln lassen
- Den Eindruck vermitteln, Partner:innen seien verrückt
- Aussagen oder Verhaltensweisen behaupten, die nie stattgefunden haben
- Das Selbstvertrauen und die Selbstwahrnehmung grundlegend erschüttern
Laufen auf Eierschalen
“Wenn Du das Gefühl hast, dass Du auf Eierschalen läufst. Wenn Du Angst hast, dass alles, was Du sagst oder tust, sie verärgern könnte.”
- Angst, etwas zu sagen, um Streit zu vermeiden
- Ständig grübeln, wie man sich verhalten sollte
- Auf jedes Wort achten, um Probleme zu vermeiden
Liebesbombardement
„Ich habe noch nie bei einem anderen Menschen solche Gefühle gehabt“ und so weiter. Auf diese Weise wirst Du schnell anhänglich und entwickelst eine positive Wahrnehmung dieser Person, sodass du, wenn der Missbrauch beginnt, A nicht weggehst, weil du weißt, dass die Person gut ist, und B sie es als Schuldgefühl gegen dich verwenden kann.”
- Super charmant und außergewöhnlich schmeichelhaft
- Betonung der Einzigartigkeit der Liebe
- Starke und häufige Zuneigungsbekundungen
- Enorme Geschwindigkeit des Beziehungsbeginns
Anwendung von körperlicher Gewalt
“Sie hat mir Schmerzen zugefügt, indem sie mich schlug, biss und mich kratzte, weil sie es „liebte, wie ich vor Schmerz schrie.“
- Androhung von Gewalt
- Zerstörung von Gegenständen
- Schlagen, schubsen, körperliche Misshandlung
Negative Impulsdurchbrüche
„Viele Beschimpfungen und Schreikrämpfe, mehrmals hintereinander wieder anrufen, nachdem aufgelegt wurde. Das brachte einige sehr, sehr hässliche Verhaltensweisen in mir zum Vorschein.“
- Explodieren wegen kleiner Dinge
- Wutausbrüche, wenn es nicht so läuft, wie gewünscht
- Anschreien und Beschimpfungen
Sex als Instrument der Unterdrückung
“Druck muss auch nicht mit Gewalt ausgeübt werden. Wenn sie übermäßig traurig und verletzt sind, weil du Nein sagst und sie versuchen, dir ein schlechtes Gewissen einzureden oder dir Ausreden zu geben, warum du vielleicht keinen Sex haben willst, damit du darüber hinwegkommst. Manipulation und Schuldgefühle können dich zum Sex zwingen. Man nennt die sexuelle Nötigung.”
“Ich werde dich mit Sex belohnen, wenn du dich richtig verhalten hast, und Sex verweigern, wenn du dich falsch verhalten hast.”
- Erwartet Sex auf Verlangen
- Zwang zu sexuellen Handlungen
- Instrumenteller Einsatz von Sexualität für andere Ziele
- Verweigerung von Sex als Strafe oder Waffe
Intermittierenden Belohnungen (Zuckerbrot und Peitsche)
„An manchen Tagen ist alles wunderbar, und man fühlt sich umsorgt und sicher, aber an anderen Tagen bist du ängstlich und gequält. Vielleicht erkennst Du sogar, wie schmerzhaft die schlechten Tage sind, aber Du siehst Dein Leid als lohnend an wegen der guten Tage.“
- In der einen Minute liebevoll, in der anderen kalt und distanziert
- Wechselbad der Gefühle
- Kalter Rückzug und Rückkehr, als wäre nie etwas passiert wäre
- Erst Komplimente und Zuneigung, dann Hass und Verachtung
Anzeichen von Besessenheit und Co-Abhängigkeit
„Die Beziehung wird wichtiger als die eigene Gesundheit, Deine Eltern, Deine Freunde und wichtiger als Deine persönlichen und akademischen Ziele.“
- Einmischung in alles, was Partner:innen tun
- Partner:in als Zentrum der Welt
- Übermäßige Anhänglichkeit und Abhängigkeit
Dies ist ein recht komplexer Doppelfaktor, der sowohl Merkmale von Besessenheit der toxisch handelnden als auch der durch toxisches Verhalten betroffenen Person erfasst.
Resümee von Graham
Graham gelangt zu dem Schluss, dass die am häufigsten genannten toxischen Verhaltensweisen Elemente von Macht, Kontrolle und Selbstbezogenheit beinhalten. Im Zentrum toxischer Beziehungen stehen demnach Kontrolle, Isolation, Überwachung und Schaffung eines Beziehungs-Ungleichgewichts, wo nur noch die Bedürfnisse der toxisch handelnden Person zählen.
Sehr oft gehört zu diesen egozentrischen Handlungsweisen auch eine Leugnung von Verantwortung mit einer Schuldzuweisung an die Partner:innen,
Häufig ist ebenfalls das ständige Kritisieren, dem es eben nicht um Kritik geht, um Konflikte zu klären, sondern um die Vermittlung einer generalisierten Verachtung der Partner:in. Ebenfalls zu den häufigen toxischen Verhaltensweisen gehören Manipulation und Täuschung, die sogar – was aber deutlich seltener der Fall ist – so weit gehen kann, dass Partner:innen beginnen, an der eigenen Realität oder dem eigenen Verstand zu zweifeln.
Love-Bombing nicht immer toxisch
Ich komme zurück auf das “Love-Bombing“, also dieser Aufmerksamkeitszuwendung, Wertschätzung, Zuneigung, diesem überwältigenden Ausdruck der Liebe, der damit verbundenen Ekstase, Erfüllung, der fast magischen Kompatibilität.
All das kann nämlich auch echt sein. Wenn Dich das interessiert, schau Dir am besten nachher mein vorheriges Video zur Liebe auf den ersten Blick an. Menschen können sich ekstatisch verlieben und solch eine Liebe mit ekstatischem Beginn kann sehr wohl halten und tragfähig sein.
Problematisch wird Love-Bombing also nur, wenn andere toxische Merkmale vorhanden sind. Das ist beispielsweise bei den beim Online-Dating berüchtigten Love-Scammern der Fall, die Liebe nur vorspielen, um die Betroffenen finanziell auszunehmen.
Aber ekstatische Liebe tritt eben nicht nur bei Love-Scammern auf, sondern ebenso bei Menschen, die sich tatsächlich verlieben.
Habe also keine Angst vor der Liebe und fürchte Dich auch nicht, wenn die andere Person Dir Ihre Liebe gesteht. Achte aber darauf, ob alles stimmig ist und bleibt, ob die Worte den Handlungen entsprechen und setze ein Stoppsignal, wenn Du merkst, dass die andere Person in Wirklichkeit nur an ihre eigenen Bedürfnisse denkt und Dich dazu manipuliert, Deine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen.
Übrigens habe ich dazu auch einen Test entwickelt „Bin ich in einer toxischen Beziehung?“, mit dessen Hilfe Du eine vergangene oder auch eine aktuelle Beziehung einstufen kannst, den Link findest Du unten.
13 Vorhersagefaktoren für eine toxische Beziehung
Ich habe außerdem für dies Video anhand von 2073 Teilnehmenden dieses Tests ausgewertet, welche Merkmale tatsächlich einen statistisch eigenständigen Beitrag leisten, um zwischen einer als dezidiert toxisch, giftig und untragbar bezeichneten Beziehung und einer nicht toxischen Beziehung zu unterscheiden.
Hier ist die Liste der 13 echten Warnsignale für eine toxische Beziehung. Der Prozentsatz bezieht sich darauf, wie oft das Merkmal genannt wurde, wenn eine toxische Beziehung bejaht wurde:
Häufigkeit toxischer Merkmale in einer toxischen Beziehung
- 97 % Fundamentaler Mangel an Balance
- 92,3 % Alle Veränderungen fruchtlos
- 91,1 % Reagiert auf Widerspruch ignorieren, harsch, lächerlich machend oder aggressiv
- 89,1 % Akzeptiert nur die eigenen Ansichten als gültig
- 88,5 % Untergräbt mein Selbstvertrauen
- 84,0 Viele Momente von Unglück
- 88,3 Starke Schwankungen zwischen positiv und negativ
- 84 % Von Anfang an manipulativ, willkürlich, verwirrend, intransparent oder in anderer Weise negativ
- 83,7 Muster aus Unehrlichkeit, Halbwahrheiten und Intransparenz
- 72,3 % Körperliche Nähe oder Sexualität einseitig auf die eigenen Bedürfnisse bezogen.
- 72,1 %Permanente Trennungen und Wiederversöhnungen
- 32,3 %Stalkt mich, verfolgt mich, taucht ungewollt auf
- 28,9 Bedroht meine körperliche Sicherheit
Ganz wichtig ist aber noch Folgendes:
- Diese Merkmale treten nicht nur in toxischen Beziehungen auf. So schwankte die Häufigkeit der einzelnen Merkmale selbst bei der höchsten Beziehungszufriedenheit zwischen 4,3 % (viele Momente von Unglück) bis hin zu 18,6 % (Starke Schwankungen zwischen positiv und negativ).
Viel seltener treten in nicht toxischen Beziehungen aber mehrere Merkmale gleichzeitig auf. Das siehst Du hier:
Ganz links ist die ideale Beziehung, ganz rechts ist die toxische Beziehung. Die Unterschiede zwischen allen Gruppen sind statisch signifikant. Bei einer als ideal bewerteten Beziehung wird also im Durchschnitt nicht einmal eines dieser Merkmale bejaht, je mehr die Beziehungsqualität abnimmt, desto mehr Merkmale werden bejaht bis hin zu bei der toxischen Beziehungen im Durchschnitt mehr als 10 von 13 Merkmalen.
Mangel an Balance als rote Flagge
Herausgreifen möchte ich das Merkmal Fundamentaler Mangel an Balance, einfach deshalb, weil dies mit 97 % von nahezu allen Betroffenen von toxischen Beziehungen bejaht wurde. Dieses Merkmal könnt Ihr Euch also zur roten Flagge nehmen. So einen fundamentalen Mangel an Balance, den könnt Ihr nämlich wahrnehmen, auch dann, wenn ihr bereits in eine Abhängigkeit geschlittert seid oder wen ihr euch selbst toxisch verhaltet.
- Wenn ihr bei einer noch nicht gefestigten Dating-Beziehung merkt, dass ein Mangel an Balance besteht und dies sich nicht bei Ansprache ändert (es gibt ja auch Missverständnisse), dann solltet Ihr aussteigen, bevor es emotional schmerzhaft wird.
Seid Ihr bereits in einer Beziehung, hilft es nichts, die Augen zuzumachen:
- Entweder sind die Partner:innen doch änderungsbereit und fähig, dann könnt ihr Vereinbarungen miteinander treffen und gegebenenfalls eine Paartherapie aufsuchen- ich komme auf die Wirksamkeit solcher Maßnahmen nachher noch zu sprechen. Oder aber es führt kein Weg an der Trennung vorbei.
Warum wir dazu neigen, solange in toxischen Beziehungen zu verbleiben, darauf gehe ich übrigens gleich noch ein und das ist wirklich ein spannendes Thema.
3 Irrtümer über toxische Beziehungen
Bevor ich aber dazu komme, möchte ich zunächst drei Irrtümer korrigieren, die womöglich auch in dem, was ich bisher erzählt habe, implizit mitgeschwungen sind.
Dies sind die drei Irrtümer:
- Toxische Beziehungen sind seltenPersönlichkeitsstörungen erklären alles
- Meistens gibt es einen Täter und ein Opfer
Alle drei Annahmen sind falsch!
Die Wirklichkeit ist die Folgende:
Toxische Beziehungen sind häufig: In unserer Umfrage gaben 36,0 % der Befragten am, bereits eine toxische Beziehung gehabt zu haben. Weitere 32,3 % gaben eine Beziehung im Graubereich an. Nun sind unsere Daten nicht repräsentativ. Aber wissenschaftlich publizierte Daten sagen nicht viel anderes. Gemäß des Centers for Disease Control in den USA haben ca. 41 % der Frauen und 26 % der Männer sexuelle Gewalt, körperliche Gewalt und/oder Stalking durch einen Intimpartner erlebt. 113 Millionen Personen, das sind mehr als 50 % aller Erwachsenen in den USA, gaben an, bereits psychischen oder emotionalen Missbrauch in Beziehungen erlebt zu haben.
Persönlichkeitsstörungen sind nur eine Erklärung: Personen mit narzisstischen, antisozialen, histrionischen, paranoiden und emotional instabil impulsiven oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen zeigen besonders oft toxisches Beziehungsverhalten. Aber eine großanglegte repräsentative Untersuchung zur Häufigkeit dieser Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung von Jana Volker und Kolleg:innen schätzt ihren Anteil auf maximal 5,53 %. Dieser doch geringe Anteil kann die Häufigkeit toxischer Beziehungsmuster nicht erklären. Ein rein auf Persönlichkeitsstörungen orientierter Ansatz genügt also nicht. Diese Ansicht vertritt übrigens auch Annika Felber in ihrem wirklich lesenswerten Buch „Du tust mir nicht gut – Toxische Beziehungen erkennen und sich aus ihnen lösen“. Das Buch habe ich unten verlinkt.
Die meisten toxischen Beziehungen sind beidseitig: Studien zu körperlicher und psychischer Gewalt in Partnerschaften, wie beispielsweise dieser Übersichtartikel von Langhinrichsen-Rohling und Kolleg:innen, zeigen seit Jahren, dass die häufigste Form von Gewalt in Intimbeziehungen die wechselseitige Gewalt ist. Es ist viel seltener, dass die Gewalt in Beziehungen ausschließlich von einer Person ausgeht. Dieser Befund ist mittlerweile gut abgesichert, aber noch wenig bekamt. Für eine häufig wechselseitige toxische Problematik spricht schließlich eine umfangreiche Längsschnittstudie der Psychologen Ha und Kolleg:innen aus dem Jahr 2018, die 230 Männer und Frauen im Alter von 28 bis 30 Jahren in ihrer partnerschaftlichen Interaktion beobachteten, die sie bereit vorher im Alter von 11 Jahren und auch in späteren Altersstufen untersucht hatten. Dabei zeigte sich, dass toxisches Interaktionsverhalten zwischen den Partner:innen hoch miteinander korreliert war. Je toxischer eine Person war, desto toxischer war meistens auch die andere Person.
Wie aber entsteht diese Toxizität eigentlich?
Hierzu haben Ha und Kolleg:innen ebenfalls Erkenntnisse gewinnen können. Sie konnten belegen, dass ein konfliktäres, negatives oder vernachlässigendes elterliches Erziehungsverhalten im Alter von 11 Jahren das toxische Verhalten in Partnerschaften im Alter von 28 bis 30 Jahren statistisch vorhersagen konnte.
Eine umfangreiche meta-analytische Auswertung aller Befunde zur Fortpflanzung von Gewalt in partnerschaftlichen Beziehungen über die Generationen hinweg durch die Psychologen Stith und Kolleg:innen gelangte vor zwei Jahren ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Konfrontation mit partnerschaftlicher Gewalt in der Kindheit das Risiko für eigene spätere partnerschaftliche Gewalt als erwachsene Person erhöht.
In toxischem Beziehungsverhalten agieren wir mindestens zu einem Teil Defizite aus unserer Kindheit aus.
Toxische Verhaltensmuster in Beziehungen sind also häufig und sie treten oft beidseitig auf.
ich schließe daraus, dass nicht wenige von Euch nicht nur bereits in toxischen Beziehungen waren, sondern auch selbst toxisches Beziehungsverhalten zeigten. Damit Du die toxische Kette zerreißt, ist es wichtig, über Dein Beziehungsverhalten zu reflektieren, eigene Anteile zu erkennen, Änderungsziele zu überlegen, Risikosituationen zu erkennen und angemessenes Konfliktverhalten einzuüben.
Liegen bei Euch beidseitig in einer bestehenden Beziehung toxische Muster vor, ist es der erste Schritt, darüber miteinander zu sprechen, aus der Leugnung herauszukommen und durch die beidseitige Herausarbeitung und Offenlegung eigener Anteile in die echte Wechselseitigkeit zu gelangen, die für eine reife und stabile Beziehung erforderlich ist.
Wenn Euch dies allein nicht gelingt, kann eine Paartherapie helfen – die übrigens beispielsweise die Caritas oder die Diakonie anbieten, völlig unabhängig von Eurer Konfession. Adressen habe ich unten verlinkt.
Aber können wir toxische Muster überhaupt ändern?
Vielleicht bist Du überrascht, aber Studien geben eine klare Antwort und die lauter:
- Ja!
Psychotherapeutische Behandlungen von Personen, die in Beziehungen gewalttätig werden, können das Rückfallrisiko nach einer Meta-Analyse aus dem Jahr 2021 um ungefähr 50 % senken, also halbieren. Eine weitere Meta-Analyse über die Wirksamkeit von Paartherapie zur Beendigung von Beziehungsgewalt gelangte zu dem Ergebnis, dass paar therapeutische Behandlungsmaßnahmen das Risiko künftiger Gewalt signifikant reduzieren können.
Sind aber Partner:innen zu einer Veränderung nicht bereit, fallen immer wieder zurück oder verweigern eine Therapie, dann ist Dein einziger Ausweg aus der toxischen Konstellation, diese zu verlassen.
Es geht nicht darum, Beziehungen vorschnell aufzugeben. Sind Probleme aber tiefgreifend und zeigen sich als änderungsresistent, resultiert aus dem Verbleib in der toxischen Beziehung nur fortgesetztes Unglück.
Warum lösen sich Menschen nicht?
Warum ist es aber, dass sich manche Menschen trotz fundamentalem Mangel an Balance, trotz Leid, seelischen Schmerzen, trotz körperlicher Übergriffe, sexueller Übergriffe, trotz Stalking oder Cyberstalking nicht trennen?
Betroffene sagen es uns jetzt selbst, die Zitate habe ich aus unserer Umfrage zu toxischen Beziehungen entnommen:
“Mein Anteil war, dass ich zu wenig Grenzen gezogen habe und mich zu oft als Opfer gefühlt habe, statt aktiv zu werden. Auch meine Verlustängste haben dazu geführt, dass ich oft eingeknickt bin, statt einen Konflikt auch mal auszusitzen oder durchzuziehen.”
- „Ich habe meine Grenzen zu Beginn aufgezeigt und kommuniziert. Mein Partner hat diese aber mehrfach überschritten. Ich habe leider keine Folgen daraus gezogen und mich stattdessen angepasst und mich selbst zurückgenommen. Bedürfnisse habe ich aufgezeigt, auf diese wurde nicht wirklich eingegangen und mit (passiv) aggressivem oder distanziertem Verhalten reagiert. Ich habe leider doch weiter versucht, die Beziehung aufrecht zu halten. Und seine Entschuldigungen für sein abweisenden, abwertendes, aggressives Verhalten und seine Aussicht auf Änderung immer aufs Neue angenommen. Mein Anteil war, dass ich keine Konsequenzen gezogen und mich getrennt habe, sondern geblieben bin und gelitten habe. “
- „Mein Anteil war, dass ich zu wenig Grenzen gezogen habe und mich zu oft als Opfer gefühlt habe, statt aktiv zu werden. Auch meine Verlustängste haben dazu geführt, dass ich oft eingeknickt bin, statt einen Konflikt auch mal auszusitzen oder durchzuziehen.“
- „Ich habe meine Grenzen zu Beginn aufgezeigt und kommuniziert. Mein Partner hat diese aber mehrfach überschritten. Ich habe leider keine Folgen daraus gezogen und mich stattdessen angepasst und mich selbst zurückgenommen. Bedürfnisse habe ich aufgezeigt, auf diese wurde nicht wirklich eingegangen und mit (passiv) aggressivem oder distanziertem Verhalten reagiert. Ich habe leider doch weiter versucht, die Beziehung aufrecht zu halten. Und seine Entschuldigungen für sein abweisenden, abwertendes, aggressives Verhalten und seine Aussicht auf Änderung immer aufs Neue angenommen. Mein Anteil war, dass ich keine Konsequenzen gezogen und mich getrennt habe, sondern geblieben bin und gelitten habe.”
- „Ich hatte Probleme alleine zu sein und große Angst, nie wieder jemanden zu finden, der mich liebt.”
- „Meine eigenen Anteile: Ich war klammernd, ängstlich-passiv — es war wohl emotionale Abhängigkeit. “
- „starke Anziehungskraft durch großartige Leidenschaft und phasenweise extreme Zugewandtheit und Wertschätzung meiner Person. “
- „Habe mich nicht getrennt, weil es die stärkste Liebe war die ich je empfunden hatte. Trotz starker Stimmungsschwankungen und Schwankungen in ihrem Verhalten und in ihren Ansichten, habe ich mich nicht getrennt. Sie hat sehr stark meinen Kontakt und meine Nähe gesucht. Sehr glückliche und sehr schmerzhafte Momente wechselten sich ab. Es gab große Höhen und Tiefen. „
- „Ja, ich selbst war genauso toxisch wie er auch zu mir. Lange keine Trennung, da ich keine Arbeit habe und chronisch krank bin.”
Tiefs und Hochs
Ein Grund, warum Betroffene von einseitigen und beidseitigen toxischen Beziehungen nicht aussteigen, kann auch sein, dass nach furchtbaren Tiefs durch Versöhnungen derartig ekstatische Hochs eintreten, dass die Betreffenden nach diesen regelrecht süchtig werden und dafür die negativen Folgen in Kauf nehmen. Das Tief kann zum Signal für das kommende Hoch werden und somit sogar selbst als Kick erlebt werden. Das kann sich wechselseitig hochschaukeln, oder bei einseitiger Konstellation wagen sich die Betroffenen umso weniger Grenzen zu ziehen, weil sie den Verlust der Hochs fürchten.
Emotionale Abhängigkeit
Emotionale Abhängigkeit kann ein weiterer Grund dafür sein, dass wir keine Grenzen setzen. Einen Artikel hierzu aus meinem Beziehungsblog habe ich ebenfalls unten verlinkt. Außerdem findest Du unten in den Ressourcen einen Link zu dem Test “Neige ich zur Abhängigkeit in der Liebe?“ , mit dem Du Dir über dein eigenes Muster klar werden kannst.
Beziehungsabhängigkeit kennzeichnet sich nach den Befunden der Psychologen Sirvent-Ruiz und Kolleg:innen durch zwei Tendenzen:
- Unterordnung unter Partner:innen: “Mir wurde gesagt, dass ich in meinen Beziehungen mit anderen dazu neige, meinem Partner die Kontrolle zu überlassen oder dass mein Partner die Beziehung “beherrscht”.”
- Brennende Sehnsucht und Verlangen: “Wenn mein Partner sich von mir entfernt (wegen Arbeit, Reisen usw.), spüre ich eine unerträgliche Leere.”
Natürlich ist es gut, wenn wir Rücksicht auf die Bedürfnisse unserer Partner:innen nehmen. Solange dies wechselseitig ist und wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht unterordnen, besteht kein Problem, im Gegenteil, es ist eine Ressource.
Auch dürfen, können, ja sollen wir unsere Partner:innen vermissen, uns nach ihnen sehnen und Verlangen nach ihnen haben. Aber eine unerträgliche Leere sollte bei temporärer Abwesenheit nicht eintreten und wir sollten, gerade wenn die Liebe stark ist, dazu in der Lage sein, eine temporäre Getrenntheit gut zu überstehen. Erfolgreiche Fernbeziehungen – auch ein vorheriges Videos von mir – zeigen uns jeden Tag, wie gut das vielen Paaren gelingt. An ihnen können wir uns ein Beispiel nehmen.
Ordnen wir aber unsere Bedürfnisse unter und betrachten jede temporäre Getrenntheit als unerträglich, dann verstärken wir toxisch handelnde Partner:innen in ihrer Dominanz, Rücksichtslosigkeit und Macht.
Selbst in jedenfalls vordergründig vorwiegend als einseitig erscheinenden toxischen Beziehungen (die Minderheit sind), wo eine Person aggressiv auftritt und die andere keine Grenzen zieht, wird die toxische Konstellation in Wirklichkeit durch beide Personen ermöglicht.
Dies ist durchaus auch eine gute Nachricht, denn dies bedeutet umgekehrt, dass immer alle Seiten die Möglichkeit haben, etwas zu verändern und wenn die Änderung darin besteht, dass wir uns aus einer emotionalen Abhängigkeit befreien.
Posttraumatisches Wachstum
Und genau hierzu hat Callie Graham in ihrer Promotion ebenfalls wichtige und ermutigende Beobachtungen gemacht:
- Sie hat nämlich bei ihren Teilnehmenden beobachtet, dass es zu einem posttraumatischen Wachstum nach Auflösung einer toxischen Beziehung kommen kann. Dieses posttraumatische Wachstum zeigt sich als persönliches Wachstum mit einer Wertschätzung des eignen Lebens, neuen Möglichkeiten und mehr persönlicher Stärke, sowie einer höheren Wertschätzung von Beziehungen und einer verbesserten Sensitivität im sozialen Umgang.
Wir können also aus dem Tal der Tränen herauskommen, wobei Graham zusätzlich aufzeigen konnte, dass die Suche nach sozialer Unterstützung und der Aufbau einer positiven, eigenständigen Alltagsstruktur das posttraumatische Wachstum offenbar fördern können.
Schöner ist es natürlich oft – aber nicht immer – wenn ihr, statt euch zu trennen, gemeinsam an einer Verbesserung Eurer Beziehung arbeitet.
In meinem letzten Video habe ich die 15 grundlegenden Faktoren des Beziehungsglück vorgestellt. Wenn Ihr Euch diese zu Herzen nehmt und bereit seid, daran zu arbeiten, habt Ihr bereits den ersten Schritt getan.
Ihr braucht hiermit nicht zu warten, bis ihr in einer Beziehung seid. Wenn ihr negative oder gar toxische Beziehungserfahrungen habt und nun erneut nach einer Partnerschaft sucht, könntet und solltet Ihr Euch bereits vorher mit diesen Faktoren beschäftigen, damit Eure nächste Beziehung keine Wiederholung negativer Muster, sondern ein Aufbruch zu einem echten Partnerglück wird.
Auch hierzu habe ich einen weiteren Artikel verlinkt, der ganz konkret aufzeigt, wie ihr in der Phase des Single-Dasein, bei der Partnersuche, der Partnerwahl, beim Beziehungsaufbau und bei der Beziehungsaufrechterhaltung an jedem dieser 15 Faktoren arbeiten könnt.
Tust Du dies, sind Deine Aussichten gut, die Beziehungsqualität einer möglichen bestehenden Beziehung nachhaltig zu verbessern oder eine neue Beziehung von Anfang an mit einem positiven Beziehungsverhalten zu beginnen und sie so auf eine stabile Basis zu bringen – und natürlich eine toxische Beziehung gar nicht mehr aufkommen zu lassen.
Kurzzusammenfassung “alles zu toxischen Beziehungen”
Nach diesen vielen Informationen brauche ich jetzt nur noch sieben Sätze, um zu sagen, was eine toxische Beziehung ist, wie Du sie erkennst, verhinderst oder aus ihr herauskommst, falls sie bereits entstanden ist:
- Toxische Beziehungen kennzeichnen sich durch einen fundamentalen Mangel an Balance sowie eine fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit zur Veränderung.
- Du erkennst, dass Du in einer toxischen Beziehung seid, wenn deutlich wird, dass letztlich nur die Ansicht und die Bedürfnisse der anderen Person zählen, oder nur Deine.
- Aus einer toxischen Beziehung gibt es nur zwei Auswege: Nachhaltige Veränderung oder Trennung.
- Ihr könnt gemeinsam und systematisch daran arbeiten, Wertschätzung, Freiräume, gemeinsame Ziele und ein angemessenes Konfliktverhalten zu erlernen.
- Therapie kann hierbei tatsächlich helfen – besteht aber bei einer oder beiden Seiten keine Bereitschaft, an den toxischen Zügen zu arbeiten, führt an einer Trennung kein Weg vorbei, wenn Du Dir nicht die Lebensfreude und die Möglichkeit zu einer echten Liebesbeziehung verbauen willst.
- So belastend toxische Beziehungen auch sind, so stellen sie doch, wie alle Krisen, auch eine Möglichkeit zum Wachstum dar. Sie können Dir den Anlass geben, Dir soziale Unterstützung zu suchen, an Deiner eigenen Person und Deinen Beziehungsperspektiven zu arbeiten.
- Bist Du aktuell Single, ist dies eine geradezu ideale Möglichkeit für Dich, all diese Schritte bereits jetzt zu tun, damit Du nie wieder in einer toxischen Beziehung, sondern das nächste Mal in einem tatsächlichen und anhaltenden Partnerglück landest. Das ist möglich und wir sehen dies bei Gleichklang jeden Tag.
In diesem Sinn wünsche ich Euch viel Glück und Kraft. Beim nächsten Mal spreche ich über die verschiedenen Wege, wie Online eine Beziehung entstehen kann. Ich freue mich, wenn Du dann wieder dabei bist.
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Sie möchten noch klarer verstehen, was bei der Online-Partnersuche falsch laufen kann und wie Sie es richtig machen können?
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